Sterbelaeuten
zu sitzen, vor dem Fernseher? Thomas merkte, dass er sein Gesicht nicht abgetrocknet hatte und sein Schlaf-T-Shirt nassgetropft war. Er nahm ein Handtusch und fuhr sich damit über das Gesicht. Er ging ins Schlafzimmer und zog sich ein anderes T-Shirt an. Auf dem Gang hatte er noch Licht bei Miriam gesehen. Er klopfte an ihre Tür. Sie stand am Fenster und sah auf den verschneiten Hof.
„Kannst du noch nicht schlafen?“, fragte Thomas.
„Ich leg mich gleich hin.“
Thomas stellte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. „War schön heute Abend“, sagte er.
„Hm.“ Miriam lehnte sich an ihn. „Papa?“
„Ja?“
„Meinst du, du heiratest noch mal?“
Dieses Kind konnte Schwingungen aufnehmen, es war geradezu unheimlich. „Ich weiß nicht. Soll ich?“
„Du musst natürlich nicht. Aber vielleicht wärst du dann glücklich.“
„Machst du dir Sorgen um mich?“
„Nein. Nur ein bisschen. Mama hätte sicher nicht gewollt, dass du traurig und einsam bist.“
„Nein, das hätte sie nicht gewollt.“ Sie hätte auch nicht sterben wollen. Sie hätte bei ihm sein wollen und bei ihren Kindern.
„Aber dann gibt es ja noch ein Problem: Wen soll ich denn heiraten?“
„Na, Stephanie.“
Hoppla. Das kam Miriam aber selbstverständlich über die Lippen.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ach, Papa, jetzt tu nicht so! Du magst sie doch. Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Wie du sie immer anguckst, beim Kirchenkaffee. Sonntagsmorgens, wenn sie Orgeldienst hat, stehst du immer schon ab acht vor der Kirche, damit du sie begrüßen kannst.“
So offensichtlich war das anscheinend. „Jetzt übertreibst du aber.“
„Komm, Papa, gib zu, du magst sie!“
Ja, es stimmte. Wenn überhaupt jemand infrage kam, dann war es Stephanie. Aber er hatte sich diesen Gedanken bisher gar nicht wirklich erlaubt. Seine Treue galt immer noch Anja. Und außerdem war er fest davon ausgegangen, dass seine Kinder nichts von einer neuen Beziehung halten würden. Aber letztlich waren das doch Hirngespinste. Stephanie sah nicht so aus, als warte sie nur auf Thomas. Er hatte vielmehr den Eindruck, dass sie Torat mochte. Der umgarnte zwar so ziemlich jede Frau, die ihm über den Weg lief, aber bei Stephanie legte er sich besonders ins Zeug. Da hatte er, Thomas, sicher keine Chance. Wenn Torats Charme ein Feuerwerk war, war seiner eine Friedhofskerze.
–
Nachdem Torat Stephanie in sein Bett verfrachtet hatte, sah er ihr noch einige Zeit zu, wie sie leise schnarchend schlief. Dann ging er ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Er war aufgedreht und todmüde zugleich. Ein Gefühl von Unheil und Ausweglosigkeit schnürte ihm die Brust zu. Damals, mit Ursel, hatte er das Unheil nicht kommen sehen. Hätte er es verhindern können, wenn er aufmerksamer gewesen wäre?
„Das nenne ich aber eine fesche Braut“ Jakob hatte das Hochzeitsbild in die Hand genommen.
„Ja, ach Gott, ja!“ Ursel lachte verlegen.
Irgendwie hatte Jakob es geschafft, dass Ursel Torat und ihn zum Bratenessen einlud. Wobei dazu sicher nicht viel Überredung nötig gewesen war. Torat war das unangenehm. Er hatte keinen Familienanschluss gesucht. Die Tatsache, dass er zur Untermiete wohnte, war allein finanziellen Gründen geschuldet. Eine eigene Wohnung und der Traum vom Auto, beides zusammen war nicht zu haben, noch nicht. Und für Studenten-WGs war Amorbach nicht das richtige Pflaster. So war er bei Ursel gelandet und hatte es bisher nicht bereut. Er hielt seine Distanz, benutzte die Küche, wenn sie aus dem Haus war oder fernsah oder wenn es sich eben nicht vermeiden ließ.
Jakob brachte alles durcheinander. Er verwickelte Ursel in Gespräche, zu denen Torat keine Lust hatte. Er schmeichelte ihr, bot an, für sie einzukaufen. War ihm nicht klar, was er Torat damit einbrockte? Jakob würde in ein paar Tagen seiner Wege gehen, aber er, Torat, musste bleiben und mit Ursels künstlich und völlig unnötig gesteigerten Ansprüchen leben.
„Und das hier, wo war das?“ Jakob hielt ein weiteres Foto hoch, auf dem Ursel mit einer anderen Frau zusammen zu sehen war. Beide trugen Ballkleider.
„Das! Das war zum Wiener Opernball.“ Ursel strahlte voller Stolz. „Gottfried hatte eine Einladung über die Zeitung, für die er damals gearbeitet hat. Die andere Frau ist die Frau von seinem damaligen Chef. Leider wurde er nur dieses eine Mal eingeladen, aber was für ein Erlebnis!“ Ursel sah mit verträumtem Gesichtsausdruck durch das
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