Sterbelaeuten
schon nach zehn. Aber er hatte sich noch nichts Böses gedacht. Ursels angelehnte Tür ignorierte er, legte seine Sachen ab und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Als Ursel dann immer noch nicht kam, um ihn zu begrüßen, fing er an, sich zu wundern. Wenn sie wach war, würde sie schon aus Neugier nach ihm sehen. Wenn sie schlafen gehen wollte, schon im Nachthemd war, hätte sie ihre Tür zugemacht.
Er rief: „Gute Nacht, Ursel!“ Laut und deutlich, wie er gelernt hatte, mit alten Leuten zu sprechen.
Als sie nicht antwortete, klopfte er. Und da wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er schob langsam die Tür zu Ursels Zimmer auf. Sie lag zusammengesunken vor dem Bett. Er eilte zu ihr, schüttelte ihre Schulter, nichts, fühlte ihren Puls, nichts. Ein kühler Luftzug strich über sein Gesicht. Er sah hoch. Die Terrassentür schwang sachte im Wind hin und her.
Als dieser Kommissar aus Amorbach eben an seine Fensterscheibe geklopft hatte, hätte er fast einen Herzinfarkt bekommen. Wieso war er ihm bis nach Sulzbach gefolgt? Wusste er etwas von Sibylle? Wusste er, dass Schurig hier war? Warum ermittelte er immer noch in Ursels Fall, der war doch zu den Akten gelegt, hatte er gedacht. Torat wunderte sich, wie er es schließlich geschafft hatte, den Kommissar abzuwimmeln. Er hatte ihm von Schurig erzählt, also nichts Genaues, nur dass er zum Zeitpunkt von Ursels Tod zu Besuch gewesen war und vielleicht etwas Verdächtiges bemerkt hatte. Es war doch egal gewesen, Schurig wollte sowieso untertauchen und ohne irgendeine neue Info wäre er diesen Kommissar nicht losgeworden. Von der offenen Terrassentür hatte er auch jetzt nichts gesagt, wie damals. Damals hatte er Angst gehabt, dass sie ihm nicht glauben würden. Dass sie glauben würden, er sei Schurigs Komplize. Sie waren immerhin alte Studienfreunde. Wenn niemand etwas von Schurigs Besuch wusste, würde auch die offene Tür keinen Sinn ergeben. Heute dachte er, würde es erst recht verdächtig erscheinen, wenn er Schurig für den Mord an Ursel verantwortlich machte. Sie waren ja schon wieder zusammen und schon wieder war ein Mensch zu Schaden gekommen, Sibylle. Gott sei Dank war sie wenigstens noch am Leben. Er würde bei Stephanie anrufen und sie würde Sibylle befreien, alles würde in Ordnung kommen.
Aber für ihn war nichts in Ordnung. Es ging immer weiter. Er sollte Schurig abholen und dann? Ihm bei der Flucht helfen? Wie weit? Wie lange? Torats Schultern hoben und senkten sich. Er weinte nicht nur, er schluchzte. Wann hatte er zuletzt geweint? Als Kind. Aber wozu? Er heulte einfach so, es heulte von selbst, er hatte keine Kraft in sich, es zu unterbinden. Nichts wird besser vom Heulen, hatte seine Mutter gesagt. Und seine Mutter hatte recht. Auch jetzt wurde nichts besser. Die Scheibe beschlug. Nach einiger Zeit traf Torat eine Entscheidung. Er nahm das Handy und machte einen Anruf. Es dauerte eine Weile. Dann ließ er den Motor an.
–
Es war mehr ein Kriechen als ein Steigen durch den Schneematsch, als Schurig sich den Hügel neben den Eisenbahngleisen hinaufkämpfte. Er hatte keine Zeit, sich umzudrehen und zu gucken, ob ihm jemand aus den Fensterlöchern der sonntäglich hoffentlich leeren S-Bahn zusah. Er zwang sich, Schritt für Schritt hinaufzusteigen, hielt sich an dünnen Ästen der kahlen Büsche fest, die viel zu wenig Deckung gaben. Ein seltsames Surren ertönte und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass die S-Bahn anfuhr und jeden Moment die Sicht vom Bahnhof auf ihn freigeben würde. Er sah sich um und bot eine vorläufig letzte Kraftanstrengung auf, um sich schräg den Abhang hinauf und hinter einen Hydranten zu wuchten. Dort blieb er liegen, vor ihm parkende Autos, glücklich vor dem Hydranten, der Parkplatz an einem Sonntag ansonsten mit vielen Lücken. Hier würde er in kürzester Zeit gefunden werden. Er horchte nach Martinshörnern, hörte neben dem Blut in seinen Ohren aber nur den Verkehr auf der Limesspange rauschen. Wenn Johannes nicht in den nächsten Minuten kam, musste er weiter, Richtung Wald, bevor die Polizei anrückte. Vielleicht kämmten sie schon das Dickicht neben den Bahngleisen von Schwalbach bis Sulzbach Nord ab. Ihm war, als hörte er Hundegebell. Wie weit würde er kommen, wenn er versuchte, sich zum Wald durchzuschlagen? Er sah an sich hinunter. Seine Kleidung war nass und schmutzig. Jetzt fühlte er die Nässe auch auf seiner Haut und die Kälte, als hätte es des Anblicks bedurft, um
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