Sterbelaeuten
fielen.
Das Problem war nur, dass Blum nicht bereit war abzudrücken. Seine Finger hatten die Gicht von zwanzig Dienstjahren ohne Schusswechsel, von regelmäßigen Deeskalationstrainings, von der Erwartung eines gemütlichen Sonntagsstreifendienstes, von der Erfahrung anderer, weniger glücklicher Kollegen mit Untersuchungsverfahren, Beurlaubung, Suspension, Presseartikeln, Demonstrationen gegen Polizeigewalt. Wenn er nicht abdrückte, würde er heute Abend mit Andrea auf dem Sofa sitzen und Tatort gucken. Wenn er abdrückte, würde er einen Bericht schreiben, vielleicht Ärger bekommen, vielleicht nicht mehr schlafen können, weil er einen Menschen getötet hatte, von dessen Existenz er bis heute um elf noch keine Ahnung gehabt hatte.
Die Männer fielen mit einem dumpfen Schlag auf den matschigen Parkplatz. Der Mann griff nach dem Arm des Beamten, dessen Hand die Dienstwaffe hielt. Der Beamte lag regungslos, die Hand war schlaff. Der Mann entwand ihm die Waffe mühelos und richtete sich auf, den Körper unter sich zurücklassend. Am Rand des Parkplatzes kläfften die Hunde, mühsam zurückgehalten von ihren Führern. Vor den Winterwolken zog ein Flugzeug seine Bahn. Ein Laster rauschte auf der nahen Straße vorbei und verschluckte die Schüsse fast vollständig.
–
Elisabeth lehnte sich satt und zufrieden in ihren Stuhl.
„Kaffee?“, fragte Henry. „Ich koche einen ...“
„... Kaffee, der die Scheintoten aufweckt“, ergänzten Thomas und Elisabeth.
Stephanie sah fragend in die Runde.
„Du kennst das doch aus meinen Predigten“, erklärte Henry, „ich bin nicht sehr originell und sage immer das Gleiche.“
„Die gute Nachricht muss eben immer wieder gesagt werden“, antwortete Stephanie.
„Wir wollen Schnaps“, sagte Elisabeth. „Den Kaffee kannst du später reichen.“
Thomas, Stephanie, Henry und Elisabeth saßen an Silvester vor den Resten einer Festtafel. Thomas hatte eine gigantische nachträgliche Weihnachtsgans für alle in Elisabeths und Henrys Küche gebraten.
Über ihnen trampelten die Kinder, deren kleinere Mägen schon früher kapituliert hatten. Henry kam mit einer Flasche Obstler zurück und holte Schnapsgläser aus dem Schrank.
„Danke, dass ihr mich eingeladen habt“, sagte Stephanie, als alle ihr Glas in der Hand hielten. „Es ist schon ein bisschen einsam im Haus.“
„Danke, dass du so toll für uns gekocht hast“, sagte Elisabeth zu Thomas.
„Es war mir ein Vergnügen“, erwiderte Thomas zufrieden.
„Wann ist Sibylle denn nach Hamburg gefahren?“, fragte er Stephanie.
„Am ersten Feiertag. Bis zum 23. war sie im Krankenhaus. Sie war ja total unterkühlt und hatte einen richtigen Schock erlitten. Mirko und Meike sind gleich am Montag runtergekommen und haben bei uns Weihnachten gefeiert“, erzählte Stephanie. „Das war eigentlich ganz schön. Aber ich kam mir ein bisschen fehl am Platz vor.“
Nicht so fehl am Platz wie der arme Christian, dachte Stephanie, behielt das aber für sich. Sie wollte nicht über ihn reden, die anderen kannten ihn ja kaum. Christian hatte es nicht gut aufgenommen, dass Mirko Sibylle mit wehenden Fahnen wieder zurückeroberte hatte. Er hatte kurzerhand eine „Mit-dem-Fahrrad-quer-durch-Australien-Reise“ gebucht, sozusagen ein Überlebenstraining.
„Ich hatte ja schon bei der Trauerfeier das Gefühl, es funkt auf einmal wieder gewaltig zwischen Sibylle und Mirko“, fuhr Stephanie laut fort, „na ja, und vorgestern rief Sibylle an und erzählte, dass sie wieder zu Mirko und Meike ziehen will.“
„Das freut mich für sie“, sagte Elisabeth.
„Ja“, nickte Stephanie. „Mich auch. Den Flügel wird sie mitnehmen. Mir bleibt ja immerhin die wunderbare Sulzbacher Orgel“, sagte sie lächelnd.
„Was ist denn jetzt mit der Handschrift?“, wollte Elisabeth wissen. „Ist sie echt?“
„Sibylle hat mit der Bibliothek des Augustinerklosters in Erfurt Kontakt aufgenommen, wo Luther gelebt hat. Sie wollen die Handschrift im Januar prüfen. Wenn sie echt ist, wird Sibylle sie an das Kloster zurückgeben, von wo sie dann ja höchstwahrscheinlich verschwunden ist.“
„Das ist aber nobel von ihr“, fand Thomas.
„Na ja, sie haben schon angedeutet, dass es einen großzügigen Finderlohn geben wird“, sagte Stephanie. „Ja, und dann werfen wir alles zusammen, das Haus, den Flügel, den Finderlohn und teilen es durch zwei. Ich werde also Sibylle in irgendeiner Höhe auszahlen.“
„Klingt fair“, stimmte Elisabeth
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