Sterben: Roman (German Edition)
und verschwanden in dem Gebäude, zwei blieben wartend vor dem Streifenwagen zurück. Ein zwischen fünfzig und sechzig Jahre alter Passant würdigte die Beamten keines Blickes. Ich vermutete, dass er eigentlich hatte hineingehen wollen, aber kalte Füße bekommen hatte, als er die Polizei vor der Tür sah. Bei US VIDEO ging rund um die Uhr ein kontinuierlicher Strom von Männern ein und aus, und da ich hier seit fast einem Jahr wohnte, konnte ich in neun von zehn Fällen erkennen, wer hinein- und wer vorbeigehen würde. Fast alle hatten die gleiche Körpersprache. Sie gingen im Allgemeinen die Straße hinunter, und wenn sie die Tür öffneten, geschah dies mit einer Bewegung, die wie eine natürliche Fortsetzung der vorherigen aussehen sollte. Sie waren so sehr darauf bedacht, sich nicht umzuschauen, dass einem gerade das ins Auge fiel. Sie strahlten die Anstrengung aus, die Normalität aufrechtzuerhalten. Nicht nur, wenn sie sich hineinschoben, sondern auch, wenn sie wieder herauskamen. Die Tür ging auf, und ohne stehen zu bleiben glitten sie fast auf den Bürgersteig heraus und verfielen in diesen Gang, mit dem sie den Eindruck vermitteln wollten, sich schon zwei Häuserblocks ununterbrochen in dieser Weise bewegt zu haben. Alle Altersgruppen von sechzehn bis jenseits der siebzig waren vertreten, und die Besucher stammten aus allen Gesellschaftsschichten. Manche sahen aus, als gingen sie im Auftrag eines anderen dorthin, andere kamen auf dem Heimweg von der Arbeit oder am frühen Morgen oder zum Abschluss eines Abends in der Stadt. Ich selbst war zwar nie hingegangen, wusste aber durchaus, wie es dort aussah: die lange Treppe nach unten, das tiefgelegene, zwielichtige Kellerlokal mit der Theke, an der man bezahlte, die Reihe schwarz lackierter Kabinen mit Fernsehbildschirmen, die zahlreichen Filme, unter denen man wählen konnte, je nachdem, welche sexuellen Vorlieben man hatte, die schwarzen Kunstlederstühle, die Toilettenpapierrollen auf der Ablage daneben.
August Strindberg behauptete einmal in seinem tiefsinnigen, geistig verwirrten Ernst, die Sterne am Himmel seien Löcher in einer Wand. Manchmal musste ich an seine Worte denken, wenn ich den nie enden wollenden Strom von Seelen betrachtete, die diese Treppenstufen hinabstiegen und sich in die Dunkelheit der Kellerkabinen setzten, um zu onanieren, während sie auf die leuchtenden Bildschirme starrten. Dass die Welt um sie hermetisch abgeriegelt war, und eine ihrer wenigen Möglichkeiten, aus ihr herauszuschauen, diese Luken waren. Was sie dort sahen, erwähnten sie anderen gegenüber nie, es gehörte zum Unaussprechlichen, war unvereinbar mit allem, was zum normalen Leben gehörte, und die meisten, die dorthin gingen, waren ganz normale Männer. Aber das Unaussprechliche galt nicht nur im Verhältnis zur Welt oben, es prägte sie vielmehr auch dort unten, jedenfalls ihrem Verhalten nach zu urteilen, der Tatsache, dass keiner von ihnen mit dem anderen sprach, keiner den anderen ansah, den solipsistischen Bahnen, in denen sich alle zwischen der Treppe, den Regalen voller Filmen, der Theke, der Kabine und erneut der Treppe bewegten. Sie konnten die Augen nicht davor verschließen, dass diesen Vorgängen auch etwas grundsätzlich Lächerliches eigen war, Männer, die mit heruntergelassenen Hosen in ihren Kabinen hockten und ächzten und stöhnten und an ihrem Glied zogen, während sie Filme von Frauen sahen, die mit Pferden oder Hunden schliefen, oder von Männern, die es mit einer Vielzahl anderer Männer trieben, aber auch keine Rücksicht darauf nahmen, da wahres Lachen und wahre Begierde unvereinbare Größen sind, und die Begierde hatte sie dorthin getrieben. Aber warum dorthin? All diese Filme, die man sich dort unten ansehen konnte, gab es doch auch im Internet und konnten folglich ganz allein und ohne das Risiko, von anderen gesehen zu werden, konsumiert werden. Demnach musste sie etwas an der unaussprechlichen Situation selbst reizen. Entweder das Niedrige, Armselige und Schäbige daran oder das Hermetische. Ich wusste es nicht, für mich war das unbekanntes Terrain, aber ich konnte nicht anders, ich musste darüber nachdenken, denn wenn ich in diese Richtung blickte, ging jedesmal jemand hinunter.
Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass die Polizei auftauchte, aber meistens geschah es wegen der Demonstrationen, zu denen es vor dem Gebäude immer wieder kam. Den Laden selbst ließen sie zum großen Unmut der Demonstranten in Ruhe. Sie konnten mit
Weitere Kostenlose Bücher