Sterben: Roman (German Edition)
dass ich stehen bleiben musste.
»Sie müssen auf die andere Straßenseite wechseln«, erklärte er. »Es brennt. Soweit ich weiß, könnte es eine Explosion geben.«
Er hob ein Handy ans Ohr, ließ es wieder sinken.
»Ich meine es ernst«, sagte er. »Rüber auf die andere Seite.«
»Wo brennt es denn?«, sagte ich.
»Da drüben«, erwiderte er und zeigte auf ein zehn Meter entferntes Fenster. Der obere Teil stand offen, Rauch sickerte heraus. Ich ging schräg auf die Straße, um besser sehen zu können, während ich gleichzeitig zumindest teilweise seinem drängenden Anliegen nachkam, Abstand zu wahren. Das Zimmer hinter dem Fenster wurde von zwei Scheinwerfern beleuchtet und war voller Werkzeuge und Leitungen. Farbeimer, Werkzeugkästen, Bohrer, Rollen mit Isolierungsmaterial, zwei Leitern. Zwischen all dem trieb, langsam und irgendwie tastend, der Rauch.
»Haben Sie die Feuerwehr gerufen?«, fragte ich.
Er nickte.
»Sie ist unterwegs«, sagte er.
Ich blieb noch ein, zwei Minuten stehen, aber da ich fror und nichts mehr zu passieren schien, ging ich nach Hause. An der Ampel am Sveavägen hörte ich die Sirenen der ersten Löschzüge, die unmittelbar darauf am Scheitelpunkt des Anstiegs auftauchten. Die Menschen in meiner Nähe drehten sich um. Das Geschwindigkeitsversprechen der Sirenen stand in einem eigentümlichen Widerspruch zu der Langsamkeit, mit der die großen Fahrzeuge die abfallende Straße herabkrochen. Im selben Moment wurde es grün, und ich ging über die Straße und in den Supermarkt auf der anderen Seite.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Normalerweise schlief ich binnen weniger Minuten ein, ganz gleich, wie aufreibend der Tag gewesen war oder wie beunruhigend der nächste zu werden schien, und abgesehen von jenen Phasen, in denen ich schlafwandelte, schlief ich außerdem immer tief und fest durch. An jenem Abend erkannte ich jedoch bereits, als ich den Kopf aufs Kissen legte und die Augen schloss, dass sich der Schlaf nicht einstellen würde. Hellwach lag ich da und lauschte den Geräuschen der Stadt, die je nachdem, wie sich die Menschen draußen bewegten, lauter oder leiser wurden, und den Lauten in den Wohnungen über und unter uns, die nach und nach verebbten, bis schließlich nur noch das Säuseln der Lüftung blieb, während meine Gedanken ziellos umhertrieben. Linda schlief neben mir. Ich wusste, dass das Kind in ihr auch ihre Träume prägte, in denen es beunruhigend oft um Wasser ging: riesige Wellen, die auf ferne Strände schlugen, die sie entlangging; Überschwemmungen der Wohnung, bei denen das Wasser, das sie manchmal komplett füllte, entweder die Wände herabrieselte oder aus Waschbecken und Toilette stieg; Binnenseen, die an neuen Stellen in der Stadt auftauchten, zum Beispiel vor dem Hauptbahnhof, in dem ihr Kind in einem Schließfach lag, das sie nicht erreichen konnte, oder einfach verschwand, während sie, die Hände voller Gepäck, zurückblieb. Sie hatte auch Träume, in denen das Kind, das sie zur Welt brachte, das Gesicht eines Erwachsenen trug, oder sich herausstellte, dass es gar nicht existierte und bei der Geburt nichts als Wasser aus ihr herauslief.
Und meine Träume, wie waren sie?
Kein einziges Mal hatte ich von unserem Kind geträumt, und manchmal bekam ich deshalb ein schlechtes Gewissen, weil so offenbar wurde, jedenfalls wenn man den Strömungen in den willenlosen Teilen des Bewusstseins mehr Wahrheit zusprach als den willensgesteuerten, was ich durchaus tat, dass es für mich keine sonderlich große Bedeutung hatte, ein Kind zu erwarten. Andererseits galt dies im Grunde für alles. So gut wie nichts von dem, was mein Leben nach dem zwanzigsten Geburtstag betraf, war jemals in meinen Träumen aufgetaucht. Mir schien, als wäre ich im Traum nie erwachsen geworden, sondern weiterhin ein Kind, umgeben von denselben Menschen und Orten wie in meiner Kindheit. Und selbst wenn die Ereignisse, die sich dort abspielten, jede Nacht neu waren, blieb das Gefühl, mit dem sie mich erfüllten, doch stets gleich. Immer das Gefühl von Erniedrigung. Oft vergingen nach dem Aufwachen Stunden, ehe es aus dem Körper wich. Gleichzeitig erinnerte ich mich im wachen Zustand an kaum etwas aus meiner Kindheit, und das wenige, was mir im Gedächtnis geblieben war, weckte nichts mehr in mir, wodurch natürlich eine seltsame Art von Symmetrie zwischen Vergangenheit und Gegenwart entstand, in der Nacht und Traum mit der Erinnerung, Tag und Bewusstsein mit Vergessen
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