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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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obwohl es sich bei den Bildern um Idyllen handelte, etwa bei Claudes archaischen Landschaften, war ich doch immer beunruhigt, wenn ich sie verließ, denn was sie hatten, der Kern ihres Wesens, war diese Unerschöpflichkeit, die mir eine Art Gier aufzwang. Die Gier, selbst im Unerschöpflichen zu sein. So auch in jener Nacht. Fast eine Stunde blätterte ich in dem Buch über Constable. Immer wieder kehrte ich zu jenem Bild von den grünlichen Wolken zurück, das jedesmal das Gleiche in mir öffnete. Es kam mir vor, als höben und senkten sich zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen in meinem Bewusstsein, die eine mit ihren Gedankengängen und Argumenten, die andere mit ihren Gefühlen und Wahrnehmungen, die, obwohl Seite an Seite liegend, von den Erkenntnissen des jeweils anderen ausgeschlossen blieben. Es war ein fantastisches Bild, es löste wie alle fantastischen Bilder diese ganzen Gefühle in mir aus, aber wenn ich erklären sollte, warum das so war, worin das Fantastische bestand, wollte es mir einfach nicht gelingen. Das Bild ließ mein Inneres erbeben, aber warum? Das Bild erfüllte mich mit Sehnsucht, aber wonach? Wolken gab es genug. Farben gab es genug. Bestimmte historische Augenblicke gab es genug. Auch die Kombination dieser drei Elemente war ausreichend vorhanden. In den Augen der Gegenwartskunst, also jener Kunst, die für mich im Prinzip die gültige sein sollte, waren die Gefühle, die ein Kunstwerk auslöste, nicht wertvoll. Die Gefühle waren minderwertig, vielleicht sogar ein unerwünschtes Nebenprodukt, eine Art Abfall oder bestenfalls manipulierbares Material. Auch das naturalistisch wiedergegebene Bild der Wirklichkeit hatte keinen Wert, sondern wurde als naiv und längst überwundenes Stadium betrachtet. Dann blieb nicht viel Sinn übrig. Wenn ich den Blick jedoch von Neuem auf das Bild richtete, verschwanden alle Argumentationen im selben Moment in der Welle aus Kraft und Schönheit, die es in mir auslöste. Ja, ja, ja, hieß es dann. Dort ist es. Dorthin muss ich. Aber was bejahte ich? Wohin musste ich?
    Es war vier Uhr, also noch Nacht. Ich konnte nicht mitten in der Nacht in mein Arbeitszimmer gehen. Aber war es um halb fünf nicht schon Morgen?
    Ich stand auf und ging in die Küche, stellte einen Teller mit Hackfleischbällchen und Spaghetti in die Mikrowelle, da ich seit dem Mittagessen am Vortag nichts mehr gegessen hatte, und ging duschen, in erster Linie, um mir so die Minuten zu vertreiben, bis das Essen fertig sein würde, zog mich an, holte Messer und Gabel heraus, füllte ein Glas mit Wasser, holte den Teller und setzte mich zum Essen an den Tisch.
    Auf den Straßen war es vollkommen still. Die Stunde vor fünf Uhr war die einzige Zeit am Tag, in der diese Stadt schlief. In meinem früheren Leben, den zwölf Jahren, die ich in Bergen gewohnt hatte, war ich nachts möglichst oft aufgeblieben. Ich dachte über diese Vorliebe nie nach, es war einfach etwas, was mir gefiel und was ich tat. Begonnen hatte es als gymnasiales Ideal, dessen Ausgangspunkt die Vorstellung war, die Nacht sei irgendwie mit Freiheit verbunden. Nicht an sich, sondern im Gegensatz zur Neun-bis-Vier-Realität des Tages, die ich, und ein paar andere mit mir, bürgerlich und angepasst fand. Wir wollten frei sein, wir blieben nachts auf. Dass ich dabei blieb, hatte jedoch weniger mit Freiheit zu tun, als mit einem größer werdenden Bedürfnis, allein zu sein, das ich, wie ich inzwischen erkannte, mit meinem Vater gemeinsam hatte. In unserem Haus stand ihm eine ganze Einliegerwohnung zur Verfügung, in der er fast jeden Abend verbrachte. Das war seine Nacht.
    Ich spülte den Teller unter fließendem Wasser ab, stellte ihn in die Spülmaschine und ging ins Schlafzimmer. Als ich vor dem Bett stehen blieb, öffnete Linda die Augen.
    »Du hast aber einen leichten Schlaf«, sagte ich.
    »Wie viel Uhr ist es?«, sagte sie.
    »Halb fünf.«
    »Bist du die ganze Zeit auf gewesen?«
    Ich nickte.
    »Ich glaube, ich gehe was ins Büro. Ist das okay?«
    Sie stützte sich halb auf.
    » Jetzt? «
    »Ich kann einfach nicht schlafen«, erklärte ich. »Also kann ich die Zeit genauso gut zum Arbeiten nutzen.«
    »Bitte …«, sagte sie. »Komm, leg dich wieder hin.«
    »Hörst du nicht, was ich sage?«, erwiderte ich.
    »Aber ich will hier nicht alleine liegen«, sagte sie. »Kannst du nicht morgen früh ins Büro gehen?«
    »Es ist morgen früh«, erwiderte ich.
    »Nein, es ist mitten in der Nacht«, widersprach sie. »Und das

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