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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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verbunden waren.
    Nur vor einem Jahr war es anders gewesen. Bevor ich nach Stockholm zog, hatte ich das Gefühl, in meinem Leben gäbe es eine Kontinuität, als erstreckte es sich ungebrochen von meiner Kindheit bis in die Gegenwart, verknüpft durch immer neue Verbindungen in einem komplexen und ausgeklügelten Muster, in dem jedes Phänomen, das ich sah, eine Erinnerung wachrufen konnte, die kleine Erdrutsche aus Gefühlen in mir auslöste, einige bekannten Ursprungs, andere unbekannter Herkunft. Menschen, denen ich begegnete, kamen aus Städten, in denen ich gewesen war, und kannten Menschen, die ich getroffen hatte, es war ein Netz, und es war fest geknüpft. Als ich dann jedoch nach Stockholm ging, kam es immer seltener zu diesem Aufflammen von Erinnerungen, und eines Tages hörte es ganz auf. Das heißt, ich erinnerte mich noch; aber die Erinnerungen riefen in mir nichts mehr wach. Keine Sehnsucht, keinen Wunsch zurückzukehren, nichts. Es gab nur die Erinnerung selbst und den fast unmerklichen Hauch einer Aversion gegen alles, was mit ihr zusammenhing.
    Der Gedanke ließ mich die Augen öffnen. Ganz still lag ich da und betrachtete die Reislampe, die wie eine Art Miniaturmond in der Deckendunkelheit über dem Bettende hing. Das war nun wirklich kein Grund, sich zu beklagen. Denn die Nostalgie ist nicht nur schamlos, sie ist auch verräterisch. Was bringt einem Menschen zwischen zwanzig und dreißig denn eigentlich die Sehnsucht nach seiner Kindheit? Nach seiner Jugend? Das ähnelte einer Krankheit.
    Ich drehte mich um und betrachtete Linda. Sie lag auf der Seite, mit dem Gesicht zu mir. Ihr Bauch war so groß, dass es allmählich schwerfiel, ihn mit dem Rest ihres Körpers in Verbindung zu bringen, obwohl auch der aufgedunsen war. Erst gestern hatte sie vor dem Spiegel gestanden und darüber gelacht, wie dick ihre Oberschenkel geworden waren.
    Das Kind lag mit dem Kopf im Becken und würde bis zur Geburt so liegen bleiben. Dass es sich längere Zeit nicht bewegte, war vollkommen normal, hatten sie auf der Entbindungsstation gesagt. Sein Herz schlug, und bald, wenn es den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, würde es im Zusammenspiel mit dem Körper, dem es entwachsen war, die Geburt einleiten.
    Ich stand vorsichtig auf und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Vor dem Eingang zum Jazzclub Nalen standen mehrere Grüppchen älterer Menschen und unterhielten sich. Einmal im Monat wurden dort Tanzabende für Senioren veranstaltet, dann kamen sie in rauen Mengen, Männer und Frauen zwischen sechzig und achtzig Jahren, allesamt in ihren feinsten Kleidern, und wenn ich sie begeistert und fröhlich in der Schlange stehen sah, schmerzte mich das zuweilen bis tief in meine Seele. Vor allem einer von ihnen hatte sich mir eingeprägt. Bekleidet mit einem hellgelben Anzug, weißen Joggingschuhen und einem Strohhut, tauchte er zum ersten Mal leicht wankend an einem Septemberabend an der Kreuzung David Bagares gata auf, aber es war nicht so sehr seine Kleidung, die ihn von den anderen unterschied, sondern eher seine Ausstrahlung, denn während ich die anderen als Teil eines Kollektivs wahrnahm, ältere Männer, die ausgingen, um sich mit ihren Ehefrauen zu amüsieren, einander so sehr ähnelnd, dass man den Einzelnen sofort vergaß, wenn man woanders hinsah, war er auch dann noch allein, wenn er sich mit jemandem unterhielt. Am auffälligsten an ihm war jedoch der Wille, den er ausstrahlte und der in dieser Menschenansammlung einzigartig war. Als er in die Menge im Foyer hastete, wurde mir schlagartig klar, dass er nach etwas suchte und es dort nicht finden würde, wahrscheinlich auch nirgendwo sonst. Die Zeit war ihm davongelaufen, und mit ihr die Welt.
    Ein Taxi fuhr rechts heran. Das nächststehende Grüppchen schloss seine Schirme und schüttelte lebhaft den Schnee ab, ehe sie sich hineinsetzten. Weiter unten auf der Straße näherte sich ein Streifenwagen. Das Blaulicht war eingeschaltet, die Sirene jedoch nicht, und die Stille ließ es unheilverkündend wirken. Dem Wagen folgte ein zweiter. Im Vorbeifahren wurden sie langsamer, und als ich hörte, dass sie vor dem nächsten Häuserblock hielten, stellte ich das Wasserglas auf die Arbeitsplatte und ging ins Schlafzimmer. Die Polizeifahrzeuge hielten direkt vor US VIDEO . Der vordere war ein gewöhnlicher Streifenwagen, der hintere ein Van. Als ich zum Fenster kam, wurden im selben Moment die Hecktüren geschlossen. Sechs Polizisten liefen zum Eingang

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