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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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ihren Transparenten lediglich davorstehen, Schlagworte skandieren und buhen, wenn jemand hineinging oder herauskam, aufmerksam beobachtet von den Polizeibeamten, die mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken Schulter an Schulter standen und sie bewachten.
    »Was ist los?«, sagte Linda hinter mir.
    Ich drehte mich um und sah sie an.
    »Du bist wach?«
    »Ein bisschen«, antwortete sie.
    »Ich kann nur nicht schlafen«, sagte ich. »Und da draußen stehen ein paar Streifenwagen. Schlaf weiter.«
    Sie schloss die Augen wieder. Unten auf der Straße ging die Tür auf. Zwei Polizisten tauchten auf, gefolgt von zwei weiteren. Sie hielten einen Mann zwischen sich so fest gepackt, dass er den Erdboden nicht berührte. Das sah brutal aus, war vermutlich jedoch notwendig, da dem Mann die Hose um die Beine hing. Als sie herauskamen, ließen sie ihn los, und er fiel auf die Knie. Zwei weitere Polizisten traten aus der Tür. Der Mann richtete sich auf und zog seine Hose hoch. Einer der Beamten legte ihm die Hände auf den Rücken und verpasste ihm Handschellen, ein zweiter brachte den Mann ins Auto. Als die übrigen Polizisten sich hineinsetzten, traten zwei Angestellte auf die Straße. Die Hände in den Taschen standen sie da und betrachteten die Wagen, die angelassen wurden, die Straße hinabfuhren und verschwanden, während ihre Haare von dem fallenden Schnee langsam immer weißer wurden.
    Ich ging ins Wohnzimmer. Das Licht der Straßenlaternen, die knapp unter den Fenstern an Stahlseilen über die Straße hingen, erhellte schwach Wände und Fußboden. Ich sah eine Weile fern. Die ganze Zeit über dachte ich, dass es Linda womöglich beunruhigen könnte, falls sie wach werden und hereinkommen sollte. Alle Unregelmäßigkeiten und Unklarheiten waren geeignet, sie an die manischen Phasen zu erinnern, die ihr Vater während ihrer Kindheit durchlebt hatte. Ich schaltete den Apparat wieder aus, nahm stattdessen einen der Kunstbildbände aus dem Regal über der Couch, blieb sitzen und blätterte darin. Es war ein Buch über Constable, das ich erst kürzlich gekauft hatte. Vor allem Ölskizzen, Studien von Wolken, Landschaft, Meer.
    Ich brauchte nur den Blick über die Bilder schweifen zu lassen, als mir auch schon Tränen in die Augen traten. So groß war der Sog, den einzelne Gemälde auf mich ausübten. Andere sagten mir dagegen nichts. Bei Bildender Kunst war dies mein einziger Parameter: die Gefühle, die sie in mir weckte. Das Gefühl von Unerschöpflichkeit. Das Gefühl von Schönheit. Das Gefühl von Präsenz. Alles gebündelt in derartig akuten Augenblicken, dass es mir manchmal schwerfiel, in ihnen zu sein. Und die Empfindungen blieben völlig unverständlich. Denn wenn ich das Bild studierte, das mich am meisten beeindruckte, eine Skizze in Öl von einer Wolkenformation am sechsten September 1822, gab es darin nichts, was die Intensität meiner Gefühle hätte erklären können. Ganz oben ein Feld blauen Himmels. Darunter ein Feld weißlichen Dunsts. Dann die heranrollenden Wolken. Weiß, wo die Sonnenstrahlen sie trafen, hellgrün in den leichtesten Schattenpartien, tiefgrün und fast schwarz, wo sie am schwersten hingen und die Sonne am fernsten war. Blau, Weiß, Türkis, Grün, Schwarzgrün. Das war alles. Im Begleittext zu dem Gemälde hieß es, Constable habe es in Hampstead »at noon« gemalt und dass ein gewisser Wilcox die Korrektheit dieser Datierung angezweifelt habe, da eine andere Skizze vom selben Tag zwischen 12:00 und 13:00 stammte und einen ganz anderen, regnerischeren Himmel zeigte, ein Argument, das die Wetterberichte aus der Londoner Gegend für diesen Tag entkräfteten, da sie sehr wohl mit der Wolkendecke in beiden Bildern übereinstimmen konnten.
    Ich hatte Kunstgeschichte studiert und war es gewohnt, Kunst zu beschreiben und zu analysieren, schrieb jedoch nie über das einzig Wichtige, nämlich wie man sie erlebte. Nicht nur, weil ich das nicht konnte, sondern auch, weil die Gefühle, die in mir aufgewühlt wurden, allem widersprachen, was ich darüber gelernt hatte, was Kunst war und wozu sie gut sein sollte. Also behielt ich es für mich. Flanierte allein durch das Nationalmuseum in Stockholm oder die Nationalgalerie in Oslo oder die National Gallery in London und so weiter. Darin lag eine gewisse Freiheit. Ich brauchte meine Gefühle nicht zu begründen, ich musste mich niemandem gegenüber rechtfertigen, es gab nichts, dem ich mit Argumenten begegnen musste. Freiheit ja, aber kein Frieden, denn

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