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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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hinüber. Dann wandte ich mich um und ging zur Tür. Hinter dem Fenster zur Waschküche sah ich die Nachbarin von unten ein weißes Laken zusammenfalten. Ich griff nach der Tasche, ging durch den kleinen, höhlenartigen Korridor, in dem die Mülleimer standen, schloss das Metalltor auf, gelangte auf die Straße und eilte zum KGB und den Treppen zur Tunnelgatan hinauf.
    Zwanzig Minuten später schloss ich die Tür meines Büros hinter mir. Ich hängte Mantel und Schal an den Haken, stellte die Schuhe auf die Matte, machte mir eine Tasse Kaffee, schloss das Notebook an, setzte mich und trank Kaffee, während ich die erste Seite betrachtete, bis sich der Bildschirmschoner aktivierte und den Monitor mit seinen Myriaden von Lichtpunkten füllte.
    Das Amerika der Seele . So lautete der Titel. Und praktisch alles in diesem Raum verwies auf ihn oder das, was er in mir auslöste. Die Reproduktion von William Blakes bekanntem, fast unterwasserartigem Bild von Newton, die hinter mir an der Wand hing, daneben die beiden gerahmten Zeichnungen von Churchills Expedition im 18. Jahrhundert, in London gekauft, die eine von einem toten Wal, die zweite von einem sezierten Käfer, beide in verschiedenen Stadien abgezeichnet. Die nächtliche Stimmung von Peder Bjalke an der Kopfwand, das Grün und Schwarz darin. Das Greenaway-Plakat. Die Karte vom Mars, die ich in einer alten Ausgabe des National Geographic gefunden hatte. Daneben die beiden Schwarzweißfotografien von Thomas Wågström; die eine von einem glänzenden Taufkleid, die andere von einem schwarzen Gewässer, in dem die Augen eines Otters knapp unter der Oberfläche schimmerten. Der kleine grüne Metalldelphin und der kleine grüne Metallhelm, die ich auf Kreta gekauft hatte und die nun auf dem Schreibtisch standen. Und die Bücher: Paracelsus, Basileios, Lukrez, Thomas Browne, Olof Rudbeck, Augustinus, Thomas von Aquin, Albertus Seba, Werner Heisenberg, Raymond Russell und natürlich die Bibel sowie Werke über die Nationalromantik und Raritätenkabinette, über Atlantis, Albrecht Dürer und Max Ernst, Barock und Gotik, Atomphysik und Massenvernichtungswaffen, über Wälder und die Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Es ging mir nicht um das Wissen an sich, sondern um die Aura, die dieses Wissen ausstrahlte, die Orte, von denen es kam und die sich fast alle außerhalb der Welt befanden, in der wir heute lebten, die aber gleichwohl innen waren, in jenem ambivalenten Raum, in dem alle historischen Gegenstände und Vorstellungen ruhen.
    In den letzten Jahren hatte ich immer stärker das Gefühl gewonnen, dass die Welt klein war und ich alles in ihr überblickte, obwohl mein Verstand mir sagte, dass es sich im Grunde genau umgekehrt verhielt; die Welt war grenzenlos und unüberschaubar, die Zahl der Ereignisse unendlich, die Gegenwart eine offene Tür, die im Wind der Geschichte schlug. Doch so empfand ich es nicht. Mir schien, dass die Welt bekannt, endgültig erforscht und vermessen war, sie sich nicht mehr in unvorhergesehene Richtungen bewegte, nichts Neues und Überraschendes mehr geschehen konnte. Ich verstand mich selbst, ich verstand meine nähere Umgebung, ich verstand die Gesellschaft, die mich umgab, und wenn ich auf ein Phänomen stieß, das mir unklar erschien, wusste ich, was getan werden musste, um es zu deuten.
    Verständnis darf nicht mit Wissen verwechselt werden, denn ich wusste fast nichts – aber sollte es beispielsweise im Grenzgebiet einer früheren Sowjetrepublik irgendwo in Asien, von deren Städten ich noch nie gehört hatte, bevölkert von Einwohnern, die mir in allem von Kleidung und Sprache bis hin zu Alltagsleben und Religion fremd waren, zu Gefechten kommen und sich herausstellen, dass dieser Konflikt tiefe historische Wurzeln hat, die auf Geschehnisse im 11. Jahrhundert zurückgingen, würde meine völlige Unwissenheit und Ignoranz mich nicht daran hindern zu verstehen, was vorging, denn das Denken verfügt über Kategorien, um selbst das Fremdeste noch zu verarbeiten. So verhielt es sich mit allem. Erblickte ich ein Insekt, das ich nie zuvor gesehen hatte, wusste ich, irgendwer hatte es sicher schon vor mir gesehen und katalogisiert. Sah ich ein leuchtendes Objekt am Himmel, wusste ich, dass es sich entweder um ein seltenes meteorologisches Phänomen oder um irgendein Flugobjekt wie einen Wetterballon handeln musste und dass es am nächsten Tag in der Zeitung stehen würde, wenn es denn wirklich wichtig war. Hatte ich eine Episode aus

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