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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Wort erreicht werden konnte, somit immer außerhalb unserer Reichweite, gleichwohl innerhalb ihrer lag, denn es umgab uns nicht nur, wir waren selbst ein Teil von ihm, bestanden selbst daraus.
    Dass dieses Fremde und Rätselhafte uns etwas anging, hatte mich an die Engel denken lassen, diese mystischen Geschöpfe, die nicht nur Anteil am Göttlichen, sondern auch am Menschlichen hatten und somit besser als jede andere Gestalt die Doppeldeutigkeit in der Natur des Fremden verkörperten. Gleichzeitig haftete sowohl den Gemälden als auch den Engeln etwas zutiefst Unbefriedigendes an, da sie beide so fundamental der Vergangenheit angehörten, also jenem Teil der Vergangenheit, den wir hinter uns gelassen haben, der nicht mehr hineinpasst in die von uns erschaffene Welt, in der das Große, Göttliche, Feierliche, Heilige, Schöne und Wahre keine gültige Größe mehr war, sondern im Gegenteil etwas Dubioses oder sogar Lächerliches hatte. Dies bedeutete, das große Außerhalb, das bis zur Aufklärung das Göttliche war, übermittelt in der Offenbarung, und in der Romantik die Natur, wobei der Begriff der Offenbarung dem Sublimen entsprach, wurde durch nichts mehr verkörpert. In der Kunst war das Außerhalb synonym mit der Gesellschaft, also der menschlichen Gemeinschaft, innerhalb derer sie mit ihren Konzepten und ihrer Relativität operierte. In der norwegischen Kunstgeschichte kam der Bruch mit Munch, in seinen Bildern nahm der Mensch zum ersten Mal allen Raum ein. Während man den Menschen bis zur Aufklärung dem Göttlichen unterordnete und ihn in der Romantik der Landschaft unterordnete, in der er gemalt wurde – die Berge sind groß und gewaltig, das Meer ist groß und gewaltig, selbst die Bäume und Wälder sind groß und gewaltig, während die Menschen ausnahmslos klein sind –, verhält es sich bei Munch umgekehrt. Es ist, als verschluckte das Menschliche alles, als einverleibte es sich alles. Die Berge, das Meer, die Bäume und die Wälder, alles ist vom Menschlichen gefärbt. Nicht von den Handlungen und dem äußeren Leben des Menschen, sondern von seinen Gefühlen und seinem Innenleben. Und als der Mensch erst einmal die Oberhand gewonnen hatte, schien kein Weg zurückzuführen, wie es auch keinen Weg zurück vor das Christentum gab, nachdem es sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wie ein Flächenbrand in Europa verbreitet hatte. Bei Munch sind die Menschen gestaltet, ihr Inneres bekommt eine äußere Form, erschüttert die Welt, und als die Tür einmal geöffnet war, wurde als Nächstes die Welt als Gestaltung zurückgelassen: Bei den Malern nach Munch werden die Farben und Formen und nicht, was sie darstellen, zu Trägern des Gefühls. Fortan befinden wir uns in einem Bilderuniversum, in dem der Ausdruck an sich alles ist, was selbstverständlich auch heißt, dass es in der Kunst keine Dynamik zwischen außerhalb und innerhalb mehr gibt, sondern nur noch einen Unterschied. In der Moderne war der Unterschied zwischen Kunst und Welt fast absolut, oder anders formuliert, die Kunst war eine eigene Welt. Was in diese Welt aufgenommen wurde, war natürlich eine Frage des Ermessens, und schon bald wurde dieses Ermessen selbst zum Kern der Kunst, die sich in dieser Weise Gegenständen in der wirklichen Welt öffnen konnte und bis zu einem gewissen Grad auch musste, um nicht abzusterben, und der heutige Zustand entstand, bei dem das Handwerk der Kunst keine Rolle mehr spielt, denn der Schwerpunkt liegt ausschließlich darauf, was sie ausdrückt, und folglich nicht darauf, was sie ist, sondern was sie denkt, welche Ideen sie transportiert, so dass der letzte Rest von Objektivität, der letzte Rest von etwas außerhalb des Menschlichen aufgegeben worden ist. Die Kunst ist ein ungemachtes Bett, ein Kopierer in einem Zimmer, ein Motorrad an einer Decke geworden. Und die Kunst ist zum Publikum selbst geworden, zu der Art, wie es reagiert, wie die Zeitungen über sie schreiben; der Künstler ist ein Spieler. So ist es. Die Kunst kennt kein außerhalb, die Wissenschaft kennt kein außerhalb, die Religion kennt kein außerhalb mehr. Unsere Welt umfängt sich selbst, umfängt uns, und es führt kein Weg mehr aus ihr heraus. Wer in dieser Situation nach mehr Geist, mehr Vergeistigung ruft, hat nichts verstanden, denn genau das ist unser Problem, das Vergeistigte hat alles vereinnahmt. Alles ist Geist geworden, selbst unsere Körper sind keine Körper mehr, sondern Ideen von Körpern, etwas, das sich in

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