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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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dort eine ewige Wiederholung darstellte. Die Hebammen trugen immer die Verantwortung für mehrere Geburten gleichzeitig, sie gingen laufend in diversen Zimmern ein und aus, in denen Frauen wimmerten und schrien, brüllten und stöhnten, je nachdem, in welcher Phase der Geburt sie gerade waren, und das passierte kontinuierlich, Tag und Nacht, jahrein, jahraus. Wenn es folglich etwas gab, was sie nicht tun konnten, dann, sich so inniglich um jemanden kümmern, wie Linda es in ihrem Brief erwartete.
    Sie sah aus dem Fenster, und ich folgte ihrem Blick. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes, vielleicht zehn Meter von uns entfernt, stand ein Mann mit einem Seil um die Taille und schaufelte Schnee.
    »Ihr Schweden seid verrückt«, sagte ich.
    »Macht ihr das in Norwegen nicht?«
    »Nein, wo denkst du hin?«
    Ein Jahr vor meiner Ankunft in Stockholm war ein Junge von einem herabfallenden Eisklumpen getötet worden. Seither wurden alle Dächer mit schier unglaublicher Konsequenz sofort freigeschaufelt, sobald es schneite, und wenn Tauwetter einsetzte, waren praktisch alle Bürgersteige eine Woche lang mit roten und weißen Bändern abgesperrt. Chaos allerorten.
    »Aber die ganze Angst schafft immerhin Arbeitsplätze«, sagte ich, schlang das Brot hinunter, stand auf und trank den letzten Schluck Kaffee im Stehen. »Ich gehe jetzt.«
    »Okay«, sagte Linda. »Magst du uns auf dem Rückweg ein paar Filme ausleihen?«
    Ich stellte die Tasse auf dem Tisch ab, wischte mir den Mund mit dem Handrücken ab.
    »Klar. Irgendwas?«
    »Ja. Such einfach was aus.«
    Ich putzte mir im Badezimmer die Zähne. Als ich in den Flur ging, um den Mantel anzuziehen, folgte Linda mir.
    »Was hast du heute vor?«, sagte ich und zog mit der einen Hand den Mantel aus dem Schrank, während ich mir mit der anderen einen Schal um den Hals schlang.
    »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Vielleicht im Park spazieren gehen. Ein Bad nehmen.«
    »Alles klar?«, sagte ich.
    »Ja, alles klar.«
    Ich bückte mich und band mir die Schuhe zu, während sie, einen Arm in den Rücken gestützt und riesig, über mir thronte.
    »Okay«, sagte ich, setzte die Mütze auf und griff nach der Tasche mit dem Notebook. »Dann bin ich mal weg.«
    »Okay«, sagte sie.
    »Ruf an, wenn was ist.«
    »Mach ich.«
    Wir küssten uns, und ich schloss hinter mir die Tür. Der Aufzug im Treppenhaus war auf dem Weg nach oben, und ich sah flüchtig die Nachbarin aus der Etage über uns, als sie, das Gesicht zum Spiegel vorgelehnt, vorüberglitt. Sie war Anwältin, trug meistens schwarze Hosen oder schwarze, knielange Kleider, grüßte kurz angebunden, immer mit verkniffenem Mund, wirkte feindselig, jedenfalls mir gegenüber. Zeitweise wohnte ihr Bruder bei ihr, ein hagerer, dunkeläugiger, rastloser und hart, aber schön aussehender Mann, der einer von Lindas Freundinnen aufgefallen war, die sich in ihn verliebt hatte, die beiden hatten eine Art Beziehung, die darauf hinauszulaufen schien, dass er sie so verachtete, wie sie ihn vergötterte. Es schien ihn zu quälen, dass er im selben Haus wohnte wie ihre Freundin, denn wenn wir stehen blieben und ein paar Worte miteinander wechselten, bekamen seine Augen etwas Gehetztes, aber obwohl es vermutlich damit zusammenhing, dass ich mehr über ihn wusste als er über mich, mochte es dafür auch andere Gründe geben – beispielsweise, dass er ein typischer Suchtmensch war. Dazu konnte ich nichts sagen, von dieser und ähnlichen Welten hatte ich keine Ahnung, in dieser Beziehung war ich wirklich so gutgläubig, wie Geir, mein einzig wirklicher Freund in Stockholm, behauptete, wenn er mich immer wieder mit der nach Strich und Faden hereingelegten Gestalt auf Caravaggios »Die Falschspieler« verglich.
    Als ich in den Eingangsflur kam, beschloss ich, eine Zigarette zu rauchen, ehe ich meinen Weg fortsetzte, ging durch den Korridor, der an der Waschküche vorbei auf den Hinterhof hinausführte, und blickte gen Himmel. Direkt über mir mündete ein Lüftungsschacht ins Freie und füllte die Luft in Hausnähe mit dem Geruch warmer, frisch gewaschener Wäsche. Aus dem Inneren der Waschküche hörte man schwach das Sirren einer Schleuder, eigentümlich hitzig im Vergleich zu den langsamen grauen Wolken, die in der Höhe durch den Raum trieben. An manchen Stellen sah man hinter ihnen den blauen Himmel, als wäre der Tag eine Platte, über die sie glitten.
    Ich ging zu dem Zaun, der den inneren Teil des Hinterhofs von dem Kindergarten im

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