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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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äußeren trennte, der momentan verwaist lag, da die Kinder um diese Uhrzeit aßen, stützte die Ellbogen darauf, blieb stehen und rauchte, wobei ich zu den beiden Hochhaustürmen hinübersah, die von der Kungsgatan aufragten. Sie waren in einer Art neubarockem Stil erbaut worden, und die zwanziger Jahre, von denen sie zeugten, erfüllten mich wie so oft mit Sehnsucht. Nachts wurden sie von Scheinwerfern angestrahlt, und während das Tageslicht die verschiedenen Details trennte, so dass man deutlich sah, wie sehr sich das Material der Wände von dem der Fenster, der vergoldeten Statuen und der grünspanigen Kupferplatten unterschied, vereinte das künstliche Licht sie. Vielleicht sorgte das Licht selbst dafür, vielleicht lag es auch an der Verbindung zur Umgebung, die durch das Licht hergestellt wurde; jedenfalls hatte es den Anschein, als würden die Statuen nachts »sprechen«. Nicht, dass sie zum Leben erweckt würden, sie waren genauso tot wie sonst auch, es schien eher, als hätte sich der Ausdruck des Todes verändert und wäre in gewissem Sinne intensiver geworden. Tagsüber war da nur das Nichts, nachts wurde dieses Nichts ausgedrückt.
    Vielleicht war der Tag aber auch mit so vielem ausgefüllt, was die Konzentration auf sich zog. Die zahllosen Autos auf den Straßen, die Menschen auf Bürgersteigen und Treppen und in Fenstern, die Hubschrauber, die wie Libellen am Himmel trieben, die Kinder, die jeden Moment angerannt kommen konnten und im Morast oder Schnee krabbelten, auf Dreirädern fuhren, die große Rutschbahn mitten auf dem Platz hinunterrutschten, auf die Brücke des voll ausgestatteten »Schiffs« daneben kletterten, im Sandkasten gruben, in dem kleinen »Haus« spielten, Bälle warfen oder einfach nur herumliefen, stets lärmend und schreiend, so dass der Hof vom Morgen bis zum frühen Nachmittag von einer an die Klippen einer Vogelkolonie erinnernden Kakophonie erfüllt wurde, bloß unterbrochen, wie jetzt, von der Ruhe der Mahlzeiten. Dann war es fast unmöglich, sich im Freien aufzuhalten, allerdings nicht wegen des Krachs, der mir nur selten auffiel, sondern weil die Kinder dazu neigten, sich um mich zu scharen. Hatte ich dort im Herbst gestanden, waren sie den halbhohen Zaun hochgeklettert, der den Hinterhof in zwei Teile zerschnitt, und anschließend hingen sie dort, zu viert oder fünft, und fragten mich über alles Mögliche aus, wenn sie sich nicht einen Spaß daraus machten, die verbotene Linie zu übertreten und lauthals lachend an mir vorbeizusprinten. Der vorwitzigste unter ihnen war gleichzeitig der Junge, der am häufigsten als Letzter abgeholt wurde. Wenn ich mich für diesen Heimweg entschied, sah ich ihn nicht selten alleine oder mit einem anderen Leidensgenossen im Sand spielen, wenn er denn nicht mit den Händen im Zaun am Ausgang stand. Dann grüßte ich ihn immer. War sonst niemand in der Nähe, tippte ich mir mit zwei Fingern an die Stirn und hob vielleicht sogar den »Hut« ab. Weniger ihm zuliebe, denn er sah mich jedesmal mit der gleichen grimmigen Miene an, sondern vor allem mir zuliebe.
    Manchmal stellte ich mir vor, wie all diese zärtlichen Gefühle fortgeschabt werden könnten wie der Knorpel um die Sehnen im Knie eines verletzten Sportlers, welch eine Befreiung das wäre. Weg mit aller Sentimentalität, allem Mitgefühl, aller Einfühlsamkeit …
    Ein Schrei hallte durch die Luft.
    AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA
    Ich zuckte zusammen. Obwohl dieser Schrei oft ertönte, gewöhnte ich mich nie an ihn. Die Wohnungen in dem Gebäude hinter dem Kindergarten, aus dem er kam, gehörten zu einem Altersheim. Ich sah einzelne Menschen vor mir, die regungslos und vollkommen isoliert von der Welt in ihren Betten lagen, denn die Schreie hörte man ebenso oft nachts wie morgens oder vormittags. Abgesehen davon und einem Mann, der oft rauchend auf der Veranda saß und grausam röchelnde Hustenanfälle bekam, die manchmal minutenlang anhielten, war das Altersheim eine abgeschlossene Welt. Wenn ich zum Büro ging, machte ich manchmal einen der Pfleger in den Fenstern auf der anderen Seite des Gebäudes aus, wo eine Art Pausenraum lag, und gelegentlich sah ich auch einen der Bewohner auf der Straße, mal zusammen mit Polizisten, die ihn nach Hause begleiteten, mal alleine umherirrend. Aber normalerweise verschwendete ich keinen Gedanken an diesen Ort.
    Wie er schrie.
    Alle Vorhänge waren zugezogen, auch die vor der Tür, die zur Veranda einen Spaltbreit offen stand. Ich blickte kurz

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