Sterben: Roman (German Edition)
meiner Kindheit vergessen, war mit Sicherheit Verdrängung im Spiel; wurde ich wirklich wütend auf jemanden, handelte es sich bestimmt um eine Projektion, und dass ich den Menschen, denen ich begegnete, immer zu gefallen versuchte, hing mit meinem Vater und meiner Beziehung zu ihm zusammen. Es gibt niemanden, der seine Welt nicht versteht. Jemand, der wenig versteht, zum Beispiel ein Kind, bewegt sich lediglich in einer weniger umfangreichen Welt als jemand, der viel versteht. Doch dazu, viel zu verstehen, hat stets das Wissen um die Grenzen des Verstehens gehört; das Eingeständnis, dass die Welt dahinter, also alles, was man nicht versteht, nicht nur existiert, sondern auch stets größer ist als die Welt in einem selbst. Zumindest mir war es, dachte ich manchmal, so ergangen, dass die Kinderwelt, in der alles bekannt war und in der man sich im Verhältnis zu dem, was unbekannt war, auf andere stützte, dass diese Kinderwelt eigentlich niemals aufgehört, sondern sich im Laufe der Jahre immer nur ausgedehnt hatte. Als man mich im Alter von neunzehn Jahren mit der Behauptung konfrontierte, die Welt sei sprachlich konstruiert, lehnte ich diese These mit dem ab, was ich den gesunden Menschenverstand nannte, denn das ergab doch einfach keinen Sinn, der Stift in meiner Hand sollte Sprache sein? Das Fenster, in dem die Sonnenstrahlen aufblitzten? Der Hof unter mir, den herbstlich gekleidete Studenten kreuzten? Die Ohren des Vorlesers, seine Hände? Der schwache Geruch von Erde und Laub in den Kleidern der jungen Frau, die gerade zur Tür hereingekommen war und nun neben mir saß? Das Geräusch, das die Presslufthämmer der Straßenarbeiter machten, die ihr Zelt gleich hinter der Johanneskirche aufgeschlagen hatten, das gleichförmige Brummen des Transformators? Der Lärm aus der unterhalb liegenden Stadt – sollte das alles sprachlicher Lärm sein? Das Husten vor mir ein sprachliches Husten? Nein, der Gedanke war lächerlich. Die Welt war die Welt, was ich anfasste und worauf ich stieß, was ich atmete und spuckte, aß und trank, blutete und herauswürgte. Erst viele Jahre später begann ich, dies anders zu sehen. In einem Buch über Kunst und Anatomie, das ich damals las, wurde Nietzsche mit den Worten zitiert, »dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung […] und nicht eine Welt-Erklärung ist« sowie »wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen«.
Eine fingierte Welt?
Ja, die Welt als Überbau, die Welt als Geist, schwerelos und abstrakt, aus demselben Stoff, aus dem auch die Gedanken gewoben sind, und deshalb etwas, durch das sie sich ungehindert bewegen können. Eine Welt, die nach dreihundert Jahren naturwissenschaftlicher Forschung keine Mysterien mehr kennt. Alles ist erklärt, alles ist begriffen, alles liegt innerhalb des geistigen Horizonts des Menschen, angefangen beim Allergrößten, dem Universum, dessen ältestes beobachtbares Licht, die äußerste Grenze des Alls, aus der Zeit seiner Geburt vor fünfzehn Milliarden Jahren stammt, bis zum Allerkleinsten, den Protonen und Neutronen und Mesonen des Atomkerns. Selbst die Phänomene, die uns töten, etwa die zahlreichen Bakterien und Viren, die in unsere Körper eindringen, unsere Zellen angreifen und sie wuchern oder absterben lassen, kennen und verstehen wir. Lange wurden nur die Natur und ihre Gesetze so abstrahiert und durchleuchtet, doch heute, in der Zeit des Bildersturms, gilt dies nicht mehr nur für die Naturgesetze, sondern auch für ihre Orte und Menschen. Die gesamte physische Welt ist in diese Sphäre gehoben, alles ist dem Riesenreich des Imaginären einverleibt worden, von Südamerikas Regenwäldern und den Atollen des Stillen Ozeans bis zu den Wüsten Nordafrikas und den grauen und baufälligen Städten Osteuropas. Unsere Gedanken sind durch Bilder von Orten überschwemmt worden, an denen wir nie gewesen sind, die wir aber dennoch kennen, von Menschen, denen wir nie begegnet sind, die uns jedoch trotzdem vertraut sind, und wir führen unser Leben in einem hohen Maße in Beziehung zu ihnen. Die Empfindung, dass die Welt klein, eng, hermetisch abgeschlossen, ohne Öffnung zu etwas anderem zu sein scheint, ist beinahe inzestuös, und selbst wenn ich wüsste, dass es abgrundtief falsch wäre, da wir im Grunde gar nichts wissen, entkäme ich ihr doch nicht. Die immerwährende Sehnsucht, die an manchen Tagen so groß war, dass sie sich kaum kontrollieren ließ, ergab
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