Sterben: Roman (German Edition)
sich hieraus. Nicht zuletzt um sie zu lindern, schrieb ich, durch das Schreiben wollte ich die Welt für mich öffnen, gleichzeitig führte dies aber auch dazu, dass ich scheiterte. Mein Gefühl, dass keine Zukunft existiert und sie nur aus immer mehr vom immer Gleichen besteht, lässt jede Utopie sinnlos erscheinen. Die Literatur ist stets mit dem Utopischen verwandt gewesen, wenn das Utopische also seinen Sinn verliert, gilt für die Literatur das Gleiche. Woran ich mich abarbeitete und woran sich vielleicht jeder Schriftsteller abarbeitet, war die Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion. Eigentlich sollte ich das Existierende bejahen, den Stand der Dinge bejahen, will sagen, mich in der Welt tummeln, statt nach einem Ausweg aus ihr zu suchen, denn so würde ich zweifellos ein besseres Leben bekommen, aber das wollte mir nicht gelingen, ich konnte es nicht, in mir war etwas erstarrt, hatte sich eine Überzeugung verfestigt, und obwohl sie essentialistisch war, das heißt unzeitgemäß und, schlimmer noch, romantisch, konnte ich sie deshalb nicht einfach außer Acht lassen, weil ich sie nicht nur gedacht, sondern auch mittels dieser plötzlichen Zustände von Hellsichtigkeit erfahren hatte, die wohl alle kennen, in denen man binnen weniger Sekunden eine ganz andere Welt sieht als die, in der man sich noch einen Moment zuvor befand, in denen die Welt für einen kurzen Moment vortritt und sich zeigt, ehe sie wieder in sich selbst fällt und alles wie früher zurücklässt …
Zuletzt war es mir vor ein paar Monaten im Nahverkehrszug zwischen Stockholm und Gnesta so ergangen. Die Landschaft vor dem Fenster war vollkommen weiß und der Himmel grau und feucht gewesen, wir fuhren durch ein Industriegebiet, leere Eisenbahnwaggons, Gastanks, Fabrikgebäude, alles war weiß und grau, und im Westen ging die Sonne unter, und ihre roten Strahlen verwischten im Nebel, und der Zug, in dem ich saß, war keiner dieser alten, klapprigen und abgenutzten, die normalerweise diese Strecke befahren, sondern nagelneu, poliert und glänzend, es war ein neuer Wagen, er roch neu, vor mir glitten die Türen reibungslos auf und zu, und ich dachte an nichts, betrachtete nur die rote, brennende Kugel am Himmel, und die Freude, die mich dabei erfüllte, war so brennend und traf mich mit solcher Wucht, dass sie sich von Schmerz nicht unterscheiden ließ. Was ich erlebte, schien mir von immenser Bedeutung zu sein. Immenser Bedeutung. Als der Moment vorüber war, schwächte sich das Gefühl von Bedeutsamkeit nicht ab, ließ sich auf einmal jedoch nicht mehr einordnen: Was genau war so bedeutsam? Und warum? Ein Zug, ein Industriegebiet, Sonne, Nebel?
Ich kannte das Gefühl, es ähnelte dem, das einzelne Kunstwerke in mir auslösten. Rembrandts Selbstporträt als alter Mann in der National Gallery in London war ein solches Gemälde, genau wie Turners Bild vom Sonnenuntergang im Meer vor den Toren eines antiken Hafens im selben Museum, Caravaggios Bild von Christus in Gethsemane. Vermeer weckte das gleiche Gefühl, einige von Claudes Gemälden, einzelne von Ruisdael und den anderen niederländischen Landschaftsmalern, einzelne von J. C. Dahl, fast alle Hertervigs … Aber keins von Rubens’ Gemälden, keins von Manet, keins der französischen oder englischen Maler des 18. Jahrhunderts, mit Ausnahme Chardins, nicht Whistler, auch nicht Michelangelo, und nur eins von Leonardo da Vinci. Die Erfahrung favorisierte keine bestimmten Epochen und keine bestimmten Maler, da sie sich bei einem einzigen Bild eines Malers einstellen konnte und alle anderen Werke dieses Malers in Frieden ließ. Sie hatte ebenso wenig mit dem zu tun, was man gemeinhin Qualität nennt; fünfzehn Bilder Monets ließen mich kalt, und beim Anblick eines finnischen Impressionisten, von dem außerhalb Finnlands nur wenige gehört hatten, wurde mir warm ums Herz.
Was mich an diesen Bildern so beeindruckte, wusste ich nicht. Auffällig war jedoch, dass alle vor dem 20. Jahrhundert gemalt wurden, innerhalb jenes künstlerischen Paradigmas, das nie ganz den Rückbezug zur sichtbaren Realität verlor. Es gab folglich immer eine gewisse Objektivität in ihnen, will sagen einen Abstand zwischen Wirklichkeit und Abbildung der Wirklichkeit, und es musste dieser Raum sein, in dem es »geschah«, in dem sichtbar wurde, was ich sah, wenn die Welt gleichsam aus der Welt hervortrat. Wenn man das Unbegreifliche in ihr nicht nur sah, sondern ihm zudem ganz nahe kam. Dem, was nicht sprach und von keinem
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