Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
dem Himmel aus Bildern und Vorstellungen in und über uns befindet, in dem sich ein immer größerer Teil unseres Lebens abspielt. Die Grenzen zu dem, was nicht zu uns spricht, zum Unbegreiflichen, sind aufgehoben worden. Wir verstehen alles, weil wir alles uns selbst einverleibt haben. Bezeichnenderweise hat sich jeder, der sich in unserer Zeit mit dem Neutralen, dem Negativen, dem Nicht-Menschlichen in der Kunst beschäftigt, der Sprache zugewandt, dort hat man das Unbegreifliche und Fremde gesucht, als befände es sich in der Randzone menschlicher Ausdrucksweise, also am Rande dessen, was wir verstehen, und im Grunde ist das nur logisch: Wo sonst sollte es sich in einer Welt befinden, die nicht mehr anerkennt, was außerhalb ihrer ist?
    In diesem Licht muss man die seltsam zweideutige Rolle betrachten, die der Tod übernommen hat. Einerseits ist er überall präsent, wir werden von Nachrichten über Todesfälle und Bildern von Toten überschwemmt; für den Tod gibt es in dieser Hinsicht keine Grenzen, er ist massiv, allgegenwärtig, unerschöpflich. Doch das ist der Tod als Vorstellung, der Tod als Gedanke und Bild, der Tod als Geist. Dieser Tod ist genauso wie der Tod des Namens, das Körperlose, auf das man verweist, wenn man den Namen eines toten Menschen ausspricht. Denn während der Name zu Lebzeiten eines Menschen auf den Körper verweist, wo er sich aufhält, was er tut, löst der Name sich im Tode vom Körper und verweilt wieder bei den Lebenden, die mit dem Namen stets meinen, was der Mensch war, und nie, was er jetzt ist, ein Körper, der irgendwo liegt und verwest. Dieser Teil des Todes, der dem Körper angehört und konkret, physisch, materiell ist, dieser Tod wird mit einer solchen Sorgfalt verborgen gehalten, dass sie frenetisch erscheint, und es funktioniert, man höre sich nur an, wie Menschen, die unverhofft Zeugen tödlicher Unfälle oder eines Mordes geworden sind, ihre Worte wählen. Sie sagen immer das Gleiche, es war vollkommen unwirklich , selbst wenn sie das Gegenteil meinen. Es war so wirklich. In dieser Wirklichkeit leben wir jedoch nicht mehr. Für uns ist alles auf den Kopf gestellt, für uns ist das Wirkliche unwirklich, das Unwirkliche wirklich geworden. Und der Tod, der Tod ist das letzte große Außerhalb. Deshalb muss er verborgen werden. Denn der Tod mag außerhalb des Namens und des Lebens sein, aber außerhalb der Welt ist er nicht.
    Ich selbst war fast dreißig Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine Leiche sah. Es geschah im Sommer 1998, an einem Nachmittag im Juli, in einer Kapelle in Kristiansand. Mein Vater war gestorben. Er lag auf einem Tisch mitten im Raum, der Himmel war bewölkt, das Licht in dem Zimmer schummrig, auf dem Rasen vor dem Fenster fuhr ein Mäher langsam im Kreis. Ich war dort zusammen mit meinem Bruder. Der Bestatter war hinausgegangen, um uns mit dem Toten allein zu lassen, wir standen ein, zwei Meter von ihm entfernt und starrten ihn an. Augen und Mund waren geschlossen, der Oberkörper mit einem weißen Hemd bekleidet, die untere Körperhälfte mit einer schwarzen Hose. Der Gedanke, dass ich dieses Gesicht zum ersten Mal ungehindert studieren konnte, war beinahe unerträglich. Ich hatte das Gefühl, mich an ihm zu vergreifen. Gleichzeitig verspürte ich einen unersättlichen Hunger, der verlangte, ihn immer weiter anzusehen, diesen toten Körper, der wenige Tage zuvor mein Vater gewesen war. Die Gesichtszüge waren mir vertraut, ich war mit diesem Gesicht aufgewachsen, und obwohl ich es in den letzten Jahren nur selten gesehen hatte, verging kaum eine Nacht, in der ich nicht von ihm träumte. Die Züge waren mir vertraut, nicht aber der Ausdruck, den sie angenommen hatten. Der dunkle, gelb gefärbte Teint und die verlorene Elastizität der Haut ließen das Gesicht aussehen, als wäre es aus Holz geschnitzt. Dieses Holzschnittartige verhinderte jegliches Gefühl von Nähe. Ich sah keinen Menschen mehr, sondern etwas, das einem Menschen ähnelte. Gleichzeitig war er aus unserer Welt gekommen, und was er in dieser gewesen war, existierte in mir weiter, lag wie ein Schleier aus Leben über dem Toten.
    Yngve ging langsam auf die andere Seite des Tischs. Ich sah ihn nicht an, registrierte seine Bewegung nur, als ich den Kopf hob und hinaussah. Der Gärtner, der den Rasenmäher fuhr, warf auf seinem Fahrersitz regelmäßig Blicke über die Schulter, um zu überprüfen, dass er der Schnittkante der vorherigen Runde folgte. Die kurzen Grasstoppel, die der Korb

Weitere Kostenlose Bücher