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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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nicht auffing, wirbelten über ihm durch die Luft. Einige von ihnen schienen am Boden der Maschine kleben zu bleiben, denn von Zeit zu Zeit hinterließ sie feuchte Kleckse aus gepresstem Gras, stets dunkler als der Rasen, von dem sie stammten. Auf dem Kiesweg hinter ihm ging ein Grüppchen von drei Personen, alle mit gesenktem Kopf, eine von ihnen in einem roten Mantel, leuchtend vor dem Grün des Grases und dem Grau des Himmels. Dahinter schob sich auf der Straße wiederum ein Strom von Autos auf dem Weg ins Stadtzentrum vorbei.
    Dann schlug der Motorenlärm des Rasenmähers plötzlich gegen die Wand der Kapelle. Die Vorstellung, die dieses plötzliche Geräusch in mir auslöste, dass es Vater veranlassen würde, die Augen zu öffnen, war so stark, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
    Yngve sah mit einem leisen Lächeln auf den Lippen zu mir hin. Glaubte ich, der Tote würde erwachen? Glaubte ich, der Baum würde wieder zu einem Menschen werden?
    Es war ein schrecklicher Moment. Als er jedoch vorüber war und Vater sich trotz aller Geräusche und Gemütsregungen nicht rührte, begriff ich, dass es ihn wirklich nicht gab. Das Gefühl von Freiheit, das daraufhin in meiner Brust aufwallte, ließ sich ebenso schwer bändigen wie die vorangegangenen Wellen der Trauer und fand das gleiche Ventil in einem Schluchzen, das mir, gegen meinen Willen, im nächsten Moment entfuhr.
    Ich begegnete Yngves Blick und lächelte. Er kam auf meine Seite und stellte sich neben mich. Ich war ganz von seiner Gegenwart erfüllt. Ich war so froh, dass er dort stand, und musste darum kämpfen, nicht alles zu zerstören, indem ich erneut die Kontrolle verlor. Es galt, an etwas anderes zu denken, es galt, die Aufmerksamkeit etwas Neutralem zuzuwenden.
    Jemand räumte im Nebenzimmer. Leise Geräusche, die mit der Stimmung in unserem Raum brachen, wesensverschieden, so wie die Geräusche aus der den Schlafenden umgebenden Wirklichkeit, die in den Traum einschlagen, wesensverschieden sind.
    Ich blickte auf Vater hinunter. Seine Finger, die sie ineinandergeflochten auf den Bauch gelegt hatten, der gelbe Nikotinrand am Zeigefinger, fleckig, wie eine Tapete Stockflecken bekommt. Die unverhältnismäßig tiefen Falten in der Haut über den Knöcheln, die nunmehr aussahen, als wären sie angefertigt, nicht erschaffen worden. Dann das Gesicht. Abgeklärt war es nicht, denn obwohl es friedlich und still vor mir lag, war es doch nicht leer, denn es enthielt weiterhin Spuren von etwas, für das ich kein anderes Wort fand als Willen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich immer versucht hatte zu bestimmen, welchen Ausdruck sein Gesicht hatte, dass ich es niemals betrachtet hatte, ohne gleichzeitig den Versuch zu unternehmen, es zu deuten.
    Doch jetzt war es verschlossen.
    Ich drehte mich zu Yngve um.
    »Wollen wir gehen?«, sagte er.
    Ich nickte.
    Der Bestatter erwartete uns im Vorzimmer. Ich ließ die Tür hinter mir offen stehen. Obwohl ich wusste, dass es irrational war, wollte ich nicht, dass Vater alleine in dem Raum lag.
    Nachdem wir dem Bestatter die Hand gegeben und ein paar Worte dahingehend gewechselt hatten, was in den Tagen bis zur Beerdigung zu erledigen sein würde, gingen wir auf den Parkplatz hinaus und zündeten uns jeder eine Zigarette an, Yngve neben dem Auto stehend, ich auf einem Bordstein sitzend. Regen lag in der Luft. Die Bäume des Wäldchens hinter dem Friedhof bogen sich unter dem Druck des auffrischenden Windes. Für Sekunden übertönte das Rascheln der Blätter das Rauschen des Verkehrs am anderen Ende der Ebene. Dann kamen sie wieder zur Ruhe.
    »Ja, das war schon merkwürdig«, meinte Yngve.
    »Ja«, sagte ich. »Aber ich bin froh, dass wir es getan haben.«
    »Ich auch. Ich musste ihn sehen, um es zu glauben.«
    »Glaubst du es jetzt?«, sagte ich.
    Er lächelte.
    »Du nicht?«
    Statt wie beabsichtigt, sein Lächeln zu erwidern, fing ich wieder an zu weinen. Presste die Hand gegen mein Gesicht, senkte den Kopf. Immer neue Schluchzer schüttelten mich. Als ich mich beruhigt hatte, blickte ich zu ihm auf und lächelte schwach.
    »Das ist ja wie früher, als wir klein waren«, sagte ich. »Ich weine, und du guckst zu.«
    »Bist du sicher …«, setzte er an und suchte meinen Blick. »Bist du sicher, dass du den Rest alleine schaffst?«
    »Klar«, antwortete ich. »Kein Problem.«
    »Ich könnte zu Hause anrufen und sagen, dass ich noch bleibe.«
    »Fahr du mal nach Hause. Wir machen es, wie wir es besprochen

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