Sterben: Roman (German Edition)
hatte, weshalb ich den Ball ein wenig schief traf und der Schuss vorbeiging. Auf dem Heimweg im Auto kommentierte Vater das. Du hast aus deiner Chance kein Tor gemacht, sagte er. Das war eine Riesenschance. Ich hätte nicht gedacht, dass du sie vergibst. Nein, sagte ich. Jedenfalls haben wir gewonnen. Und wie? Sagte er. Zwei eins, antwortete ich und sah ihn kurz an, denn ich wollte, dass er mich fragte, wer die beiden Tore erzielt hatte. Was er zum Glück auch tat. »Und, hast du ein Tor geschossen?«, fragte er. »Ja«, sagte ich. »Beide.«
Die Stirn gegen das Fenster gelehnt, während das Flugzeug am Anfang der Startbahn hielt und die Motoren hochfuhr, begann ich zu weinen. Die Tränen kamen aus dem Nichts, das wusste ich, als sie herabliefen, das ist doch idiotisch, dachte ich, es ist sentimental, es ist dumm. Aber es half nichts, ich war in etwas Weiches und Vages und Grenzenloses hineingeraten und schaffte es erst wieder herauszukommen, als das Flugzeug ein, zwei Minuten später abhob und donnernd aufstieg. Da, endlich wieder klar denkend, senkte ich den Kopf zum T-Shirt, rieb mir die Augen mit einem Zipfel trocken, den ich zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt, und starrte lange hinaus, bis ich bei der Frau neben mir keine Wachsamkeit mehr spürte. Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück und schloss die Augen. Aber es war nicht vorbei. Ich spürte, es hatte gerade erst begonnen.
Die Maschine hatte nach dem Aufsteigen kaum ihre Flughöhe erreicht, als sich ihr Bug auch schon wieder senkte und der Landeanflug begann. Die Stewardessen hetzten mit ihren Wagen den Mittelgang hinauf und hinunter, um jedem einen Kaffee anbieten zu können. Die Landschaft unter uns, anfangs nur einzelne Tableaus, die durch seltene Löcher in der Wolkendecke sichtbar wurden, war mit ihren grünen Inseln und dem blauen Meer, ihren steilen Berghängen und schneeweißen Hochebenen hart und schön, wurde jedoch nach und nach flacher und sanfter, während gleichzeitig die Wolken verschwanden, bis die ebene Landschaft Rogalands plötzlich das Einzige war, was man sah. In mir war alles in Bewegung. Erinnerungen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, schossen mir wirbelnd und chaotisch durch den Kopf, während ich gleichzeitig versuchte, mich herauszuziehen, denn ich wollte jetzt nicht weinen und ständig analysieren, was in mir vorging, hatte im Grunde aber keine Chance. Ich sah ihn vor mir, wie wir in Hove zusammen Ski liefen, wo wir zwischen den Bäumen durch den Wald glitten und auf jeder Lichtung das Meer sehen konnten, grau und schwer und gewaltig, und es ansonsten immer rochen, der Geruch von Salz und Tang, der irgendwie direkt neben dem Geruch von Schnee und Fichten lag, Vater zehn, vielleicht auch zwanzig Meter vor mir, denn obwohl seine Ausrüstung neu war, von den Rottefella-Langlauf-Bindungen bis zu den Skiern der Marke Splitkein und dem blauen Anorak, konnte er nicht skilaufen. Er stakste fast greisenhaft vorwärts, ohne Balance, ohne Fluss, ohne Schwung, und mit dieser Gestalt wollte ich auf gar keinen Fall in Verbindung gebracht werden, so dass ich mich immer wieder ein Stück zurückfallen ließ, den Kopf voller Flausen über mich und meinen Laufstil, mit dem ich es, wer weiß, vielleicht noch weit bringen würde. Kurzum, er war mir peinlich. Dass er diese ganze Skiausrüstung gekauft und uns auf die Seeseite von Tromøya hinausgefahren hatte, um mir näher zu kommen, ahnte ich damals natürlich nicht, aber jetzt, mich mit geschlossenen Augen schlafend stellend, während wir über die Lautsprecher angewiesen wurden, uns wieder anzuschnallen und die Rückenlehne aufrecht zu stellen, ließ der Gedanke daran neue Tränen fließen, und als ich mich nochmals vorbeugte und den Kopf gegen die Wand lehnte, um sie zu verbergen, geschah dies halbherzig, da meine Mitreisenden bereits beim Start verstanden haben mussten, dass sie neben einem jungen Mann gelandet waren, der Tränen vergoss. Mir tat der Hals weh, und ich hatte nichts unter Kontrolle, alles strömte durch mich hindurch, ich war weit offen, aber nicht der Welt zugewandt, die ich kaum noch wahrnahm, sondern meinem Inneren, wo ich ganz unter der Macht meiner Gefühle stand. Es gelang mir lediglich, keinen Laut von mir zu geben und mir so einen letzten Rest von Würde zu bewahren. Kein Schluchzen, kein Seufzen, kein Klagen, kein Stöhnen. Nur die kullernden Tränen und mein Gesicht, das sich jedes Mal, wenn die Erkenntnis vom Tod meines Vaters eine neue Spitze erreichte,
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