Sterben: Roman (German Edition)
Gelegenheiten gewesen, bei denen er etwas getrunken hatte. In der Regel vermied er es zu fliegen; wenn wir irgendwohin wollten, nahmen wir das Auto, und dabei spielte es im Grunde keine Rolle, wie weit es war, aber manchmal musste er fliegen, und dann galt es, sich hinter die Binde zu kippen, was das Flughafencafé an alkoholischen Getränken zu bieten hatte. Es gab ansonsten noch manches andere, was er vermied, woran ich damals nie gedacht hatte, was ich nie gesehen hatte, weil die Dinge, die ein Mensch tut, stets in den Schatten stellen, was er nicht tut, und was Vater nicht tat, war nicht so leicht zu bemerken, auch weil er überhaupt nichts Neurotisches hatte. Aber er ging niemals zum Friseur, die Haare schnitt er sich immer selbst. Er nahm nie den Bus. Er ging so gut wie nie in dem kleinen Laden einkaufen, sondern immer in den großen Supermärkten außerhalb der Stadt. Es waren Situationen, in denen er in Kontakt mit Menschen kommen oder von ihnen gesehen werden konnte, und obwohl er Lehrer von Beruf war und folglich täglich vor einer Klasse gestanden und gesprochen und regelmäßig die Eltern zu Elternversammlungen eingeladen hatte und er sich zudem täglich mit seinen Kollegen im Lehrerzimmer unterhielt, ging er solchen geselligen Situationen doch konsequent aus dem Weg. Was war ihnen gemeinsam? Das Einfügen in eine Gemeinschaft vielleicht, die sich nur dem Zufall verdankte? Dass er als etwas gesehen wurde, worüber er keine Kontrolle besaß? Dass er im Bus, im Friseurstuhl, an der Supermarktkasse verletzlich war? Das war durchaus möglich. Aber als ich mit ihm lebte, fiel es mir nie auf. Erst viele Jahre später wurde mir schlagartig bewusst, dass ich Vater nie in einem Bus gesehen hatte, und die Tatsache, dass er sich ebenso wenig in die sozialen Zusammenhänge einbrachte, die durch Yngves und meine Aktivitäten entstanden, fand ich auch niemals auffällig. Er kam einmal zu einer Schulabschlussfeier, saß an der Wand und wollte sich das Theaterstück ansehen, das wir einstudiert hatten und in dem ich die Hauptrolle spielte, leider jedoch, ohne den Text gründlich gelernt zu haben, denn nach dem Erfolg im Vorjahr litt ich an kindlicher Hybris, ich brauchte meinen Text nicht allzu genau zu lernen, es würde auch so klappen, hatte ich gedacht, aber als ich auf der Bühne stand, vermutlich auch unter dem Eindruck der Anwesenheit meines Vaters, fiel mir kaum eine Zeile ein, und unsere Lehrerin musste mir während des ganzen langen Stücks den Text über eine Stadt soufflieren, deren Bürgermeister ich irgendwie war. Auf dem Heimweg im Auto erklärte er, er habe sich noch nie so geschämt und werde nie wieder an einer meiner Schulabschlussveranstaltungen teilnehmen. Er hielt sein Versprechen und kam auch zu keinem der unzähligen Fußballspiele in meiner Kindheit, gehörte nie zu den Eltern, die uns zu den Auswärtsspielen fuhren, nie zu den Eltern, die bei unseren Heimspielen zusahen, aber auch das fiel mir nicht auf, erschien mir nicht weiter ungewöhnlich, denn so war er, mein Vater, und außer ihm viele andere auch, denn dies ereignete sich Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre, als Vater zu sein eine andere und zumindest in praktischer Hinsicht weniger umfassende Bedeutung hatte als heute.
Doch, ein einziges Mal hatte er mich spielen sehen.
Dazu kam es in jenem Winter, in dem ich in die neunte Klasse ging. Er nahm mich zum Ascheplatz in Kjevik mit, wollte selbst weiter nach Kristiansand, wir hatten ein Trainingsspiel gegen irgendeine Mannschaft aus dem Inland. Wie üblich saßen wir schweigend im Auto, er mit einer Hand auf dem Lenkrad, die andere gegen das Fenster gelehnt, ich mit meinen Händen im Schoß. Dann hatte ich eine Eingebung und fragte ihn, ob er nicht Lust habe, sich das Spiel anzusehen. Nein, das gehe nicht, er wolle doch nach Kristiansand. Ich habe auch nicht damit gerechnet, sagte ich. In meinem Kommentar schwang keine Enttäuschung mit, keine unausgesprochene Aufforderung, es war nur eine Feststellung, ich hatte es wirklich nicht geglaubt. Kurz vor Ende der zweiten Halbzeit sah ich hinter den meterhohen Schneehaufen an der Seitenlinie plötzlich sein Auto stehen. Erahnte hinter der Windschutzscheibe vage seine dunkle Gestalt. Als nur noch wenige Minuten zu spielen waren, hatte Harald mich mit einer perfekt vors Tor geschlagenen Flanke bedient, so dass ich bloß noch den Fuß hinzuhalten brauchte, was ich auch tat, allerdings den linken, in dem ich nicht besonders viel Gefühl
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