Sterben: Roman (German Edition)
Cafés, in dem Reisende hinein- und hinausströmten, standen, saßen, aßen, lasen, trotzdem unübersichtlich war. Yngve würde ich in jeder beliebigen Menschenmenge auf der Stelle erkennen, dazu brauchte ich nicht einmal sein Gesicht zu sehen, mir reichte ein Hinterkopf oder eine Schulter, vielleicht nicht einmal das, denn für die Menschen, mit denen man aufgewachsen ist und die einen in der Zeit umgeben haben, in der ein Charakter geformt wird oder sich offenbart, ist man besonders empfänglich, man nimmt sie augenblicklich, ohne das Bindeglied der Gedanken, wahr. Was man über seinen Bruder weiß, erfasst man größtenteils intuitiv. Ich wusste nie, was Yngve dachte, ahnte selten, warum er sich verhielt, wie er sich verhielt, hatte wahrscheinlich nicht besonders oft die gleichen Ansichten wie er, was ich allerdings nur vermuten konnte, denn in dieser Hinsicht war er mir so fremd wie alle anderen. Aber ich kannte seine Körpersprache, ich kannte seine Mimik, und ich wusste, wie er roch, ich war mit allen Nuancen seiner Stimme vertraut und wusste vor allem, woher er kam. Nichts davon konnte ich in Worte fassen, und es nahm auch nur selten die Gestalt von Gedanken an, aber es bedeutete alles. Deshalb mussten meine Augen nicht die Tische in der Pizzeria absuchen, mussten nicht über die Gesichter schweifen, die auf den Stühlen vor den Gates saßen oder in der Halle auf und ab gingen, denn als ich sie betrat, wusste ich im selben Moment, wo er war. Ich schaute zu der Fassade des vorgeblich alten, vorgeblich irischen Pubs, wo er wie erwartet stand, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einer grünlichen, aber nicht miliärisch anmutenden Hose, einem weißen T-Shirt mit dem Bild von Sonic Youths Goo, einer hellblauen Jeansjacke und einem Paar dunkelbrauner Puma-Schuhe bekleidet. Er hatte mich noch nicht entdeckt. Ich betrachtete sein Gesicht, das mir vertrauter war als jedes andere. Die hohen Wangenknochen hatte er ebenso von Vater geerbt wie den leicht schiefen Mund, aber seine Gesichtsform war anders, genau wie die Augenpartie, die eher an Mutters und meine erinnerte.
Er drehte den Kopf und begegnete meinem Blick. Ich wollte lächeln, aber gleichzeitig verzerrten sich meine Lippen, und mit unwiderstehlichem Druck kamen plötzlich die Gefühle von vorhin wieder hoch. Sie drangen in einem Schluchzen nach außen, und ich begann zu weinen. Hob den Arm halb zum Gesicht, senkte ihn wieder, eine weitere Welle folgte, mein Gesicht verzerrte sich erneut. Yngves Blick werde ich niemals vergessen. Er sah mich ungläubig an. Es lag kein Urteil darin, es wirkte eher, als sähe er etwas, was er nicht verstehen konnte und nicht erwartet hatte und worauf er deshalb überhaupt nicht vorbereitet war.
»Hallo«, sagte ich unter Tränen.
»Hallo«, sagte er. »Das Auto steht unten. Wollen wir?«
Ich nickte und folgte ihm die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle und auf den Parkplatz hinaus. Ob es an der ganz eigenen Schärfe der Luft in Westnorwegen lag, die es dort unabhängig davon gibt, wie warm es ist, und die besonders spürbar war, weil wir zunächst im Schatten eines großen Dachs gingen, wodurch ich einen klaren Kopf bekam, oder an dem gewaltigen Gefühl von Raum, das die Landschaft mir erschloss, weiß ich nicht, aber ich hatte es jedenfalls wieder überwunden, als wir vor seinem Auto ankamen, und Yngve, jetzt mit Sonnenbrille, sich vorbeugte und auf der Fahrerseite den Schlüssel ins Schloss steckte.
»Ist das dein ganzes Gepäck?«, sagte er und nickte zu meiner Tasche hin.
»Oh, verdammt«, sagte ich. »Warte hier. Ich geh es schnell holen.«
Yngve und Kari Anne wohnten in Storhaug, einem Stadtteil etwas außerhalb des Stadtzentrums von Stavanger, am Ende einer Reihenhauszeile, an deren Rückseite eine Straße verlief, hinter der ein Waldstück lag, das ein paar hundert Meter weiter unten am Fjord endete. In der Nähe gab es darüber hinaus eine Schrebergartenkolonie, hinter der, in einer anderen Wohnsiedlung, Asbjørn wohnte, ein alter Freund Yngves, mit dem er vor Kurzem eine Agentur für Grafik- und Werbedesign gegründet hatte. Ihr Büro hatten sie auf dem Dachboden, dort stand ihre gesamte Ausrüstung, die sie sich gekauft hatten und derzeit zu benutzen lernten. Keiner der beiden hatte eine entsprechende Ausbildung, wenn man von ihrem Studium der Medienwissenschaften an der Universität von Bergen absah, und sie hatten in dieser Branche auch keine nennenswerten Kontakte. Trotzdem saßen sie jetzt an
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