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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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denen man die Maschinen zu ihren Parkpositionen dirigierte. Die Schlange setzte sich in Bewegung. Mein Herz pochte und pochte. Die Handteller waren verschwitzt. Ich sehnte mich nach einem Sitz, sehnte mich danach, in der Luft zu sein und hinunterzuschauen. Der gedrungene Mann vor mir bekam einen Abschnitt seines Tickets zurück. Ich reichte meins der uniformierten Frau. Aus irgendeinem Grund sah sie mir unverwandt in die Augen, als sie es annahm. Sie war auf eine strenge Art schön, hatte regelmäßige Gesichtszüge, ihre Nase war möglicherweise ein wenig spitz, der Mund schmal. Sie hatte klare, blaue Augen, und der dunkle Ring um die Iris war ungewöhnlich deutlich erkennbar. Ich sah ihr ganz kurz in die Augen, senkte anschließend den Blick. Sie lächelte.
    »Gute Reise«, sagte sie.
    »Danke«, sagte ich und folgte den anderen Passagieren die tunnelförmige Fluggastbrücke hinunter ins Flugzeug, wo eine Stewardess mittleren Alters den Einsteigenden zunickte, und weiter durch den Gang bis zur hintersten Sitzreihe. Tasche und Jacke ins Gepäckfach, auf den schmalen Sitz, anschnallen, die Füße ausstrecken, den Oberkörper zurücklehnen.
    So.
    Die Meta-Gedanken, dass ich in einem Flugzeug saß und unterwegs war, um meinen Vater zu beerdigen, während ich dachte, dass ich in dem Flugzeug saß und unterwegs war, um meinen Vater zu beerdigen, nahmen plötzlich zu. Allem, was ich sah, die Gesichter und die Körper, die langsam durch den Kabinengang näherkamen und ihr Gepäck verstauten, sich hier hinsetzten, dort das Gepäck ablegten, folgte ein reflexiver Schatten, der es einfach nicht lassen konnte, mir zu erzählen, dass ich das jetzt sah, während ich dachte, dass ich es sah, und so weiter in absurdum, während die Anwesenheit dieses Schattens oder vielleicht auch die gespiegelten Gedanken gleichzeitig auch eine Kritik daran bildeten, dass ich nicht mehr empfand, als ich es tat. Vater ist tot, dachte ich – und ein Bild blitzte vor mir auf, als benötigte ich eine Illustration des Worts »Vater« –, und mich, der ich in einem Flugzeug sitze und unterwegs bin, um ihn zu beerdigen, lässt das kalt, denke ich und sehe zwei Mädchen von etwa zehn Jahren, die sich nebeneinandersetzen, und die beiden Personen, denke ich, die ihre Eltern sein müssen, auf der anderen Seite des Mittelgangs Platz nehmen. Ich denke, denke, denke. Alles raste durch mich hindurch, nichts hatte mehr Hand noch Fuß. Mir wurde übel. Eine Frau schob ihren Koffer in das Gepäckfach direkt über meinem Platz, zog ihre Jacke aus und legte sie darauf, begegnete meinem Blick, lächelte routiniert und setzte sich neben mich. Sie war um die vierzig, hatte ein sanftes Gesicht, warmherzige Augen, schwarze Haare, war klein, ein wenig rundlich, aber nicht dick. Sie trug eine Art Anzug, also Hose und Jacke in der gleichen Farbe und im gleichen Schnitt, wie hieß das noch gleich, wenn Frauen so etwas anhatten? Ein Hosenanzug? Und eine weiße Bluse. Ich hatte den Blick nach vorn gerichtet, aber meine Aufmerksamkeit war nicht darauf gerichtet, was ich dort sah, sondern auf den Rand meines Blickwinkels, dort war »ich«, dachte ich und sah sie an. Sie hatte offenbar eine Brille in der Hand gehalten, die mir entgangen war, denn nun setzte sie diese auf die Nasenspitze und öffnete ihr Buch.
    Sie hatte etwas von einer Bankerin, oder? Allerdings nicht das Sanfte und auch nicht das Weiße. Ihre Schenkel, die sich in dem Hosenstoff ergossen, als sie gegen den Sitz gepresst wurden, wie weiß mochten sie in der Dunkelheit spätnachts irgendwo in einem Hotelzimmer sein?
    Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war so ausgedörrt, dass das bisschen Spucke, das ich zu sammeln vermochte, es nicht bis in meine Kehle schaffte. Ein weiterer Fluggast blieb an unserer Sitzreihe stehen, ein Mann mittleren Alters, fahl, mürrisch und hager, in einem grauen Anzug, er setzte sich auf den Platz am Gang, ohne sie oder mich anzusehen. Boarding completed , sagte eine Stimme aus den Lautsprechern. Ich lehnte mich ein wenig vor, um in den Himmel über dem Flughafen schauen zu können. Im Westen war die Wolkendecke aufgerissen, und ein Abschnitt des niedrigen Walds dort wurde von der Sonne beschienen, leuchtend, fast glänzend grün. Die Motoren wurden angelassen. Das Fenster vibrierte schwach. Die Frau neben mir hatte den Finger in ihr Buch gelegt und starrte im Flugzeug nach vorn.
    Vater hatte immer Angst vorm Fliegen gehabt. In meiner Erinnerung waren es die einzigen

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