Sterben: Roman (German Edition)
zu einer Grimasse verzerrte.
Ooh.
Ooh.
Dann konnte ich plötzlich wieder klar denken, und es kam mir vor, als zöge sich all das Weiche und Vage, das mich in den letzten fünfzehn Minuten erfüllt hatte, zurück wie eine Art Tidenstrom, und der riesige Abstand, den ich so dazu bekam, ließ mich kurz auflachen.
»He he he«, brachte ich hervor.
Ich hob den Unterarm und rieb mir die Augen daran. Der Gedanke, dass die Frau neben mir mich weinen gesehen hatte und nun auf einmal lachen hörte, brachte mich noch einmal zum Lachen.
»He he he. He he he.«
Ich sah sie an. Ihr Blick blieb starr auf die Buchseite vor ihr gerichtet. Hinter uns setzten sich zwei der Stewardessen auf die kleinen Klappsitze und schnallten sich den Gurt um die Taille. Vor dem Fenster sah man Sonne und Grün. Der Schatten, der uns auf dem Erdboden folgte, kam immer näher wie ein Fisch, der eingeholt wurde, bis er, als das Fahrgestell aufsetzte, ganz unter den Rumpf geraten war und dort während des gesamten Abbremsens und Rollens wie festgezurrt lag.
Um mich herum standen die Leute auf. Ich atmete tief durch. Es war ein intensives Gefühl, wieder einen klareren Kopf zu haben. Froh war ich nicht, aber erleichtert, wie immer, wenn etwas Schweres unerwartet nachgibt. Die Frau neben mir, bei der ich erst jetzt, nachdem sie das Buch zugeschlagen hatte, die Chance bekam zu sehen, was sie eigentlich las, stand auf und stellte sich im Gang auf die Zehenspitzen, um an das Gepäckfach heranzukommen. Sie las Die Frau und der Affe von Peter Høeg. Das Buch hatte ich gelesen. Gute Idee, schlecht gemacht. Hätte ich unter normalen Umständen mit ihr ein Gespräch über den Roman geführt? Wenn es sich so leicht ergeben hätte wie jetzt? Nein, das hätte ich nicht, aber ich hätte neben ihr gesessen und überlegt, dass ich es tun sollte. Hatte ich überhaupt schon einmal ein Gespräch mit einem Fremden angefangen?
Nein, niemals.
Und nichts deutete darauf hin, dass ich es jemals tun würde.
Ich lehnte mich vor, um aus dem Fenster zu sehen, auf den staubigen Asphalt hinunter, wie ich es einmal zwanzig Jahre zuvor getan hatte, und zwar mit dem merkwürdigen, aber klaren Vorsatz, mich an das, was ich sah, für alle Zeit zu erinnern. An Bord eines Flugzeugs wie jetzt, auf dem Flughafen Sola wie jetzt, damals jedoch auf dem Weg nach Bergen und von dort aus weiter zu Großmutter und Großvater in Sørbøvåg. Wenn ich ein Flugzeug nahm, kam mir jedesmal diese Erinnerung in den Sinn, zu der ich mich damals gezwungen hatte. Lange Zeit bildete sie auch den Anfang des Romans, den ich erst kürzlich beendet hatte und der nun in Form einer sechshundertvierzig Seiten langen Korrekturfahne in meinem Koffer im Frachtraum lag, die ich binnen einer Woche lesen musste.
Das war immerhin gut.
Ich freute mich auch darauf, Yngve zu treffen. Nachdem er aus Bergen fortgezogen war, zunächst nach Balestrand, wo er Kari Anne kennen gelernt und mit ihr ein Kind bekommen hatte, und danach nach Stavanger, wo sie ein zweites Kind bekamen, hatte sich unsere Beziehung verändert, er war niemand mehr, bei dem ich mal kurz vorbeischaute, wenn ich nichts anderes vorhatte, mit dem ich ins Café oder auf ein Konzert ging, sondern jemand, den ich ab und zu für ein paar Tage besuchte, mit allem, was dies an Familienleben bedeutete. Aber das gefiel mir, es hatte mir schon immer gut gefallen, bei anderen Familien zu übernachten, ein eigenes Zimmer mit einem frisch bezogenen Bett zu bekommen, das voller fremder Dinge war, Handtuch und Waschlappen freundlich herausgelegt, um von dort aus mitten in das Leben der Familie zu treten, obwohl es auch stets, praktisch unabhängig davon, wen ich besuchte, ein wenig unangenehm war, denn selbst wenn man in Gegenwart von Gästen immer versuchte, eventuelle Spannungen fernzuhalten, blieben sie doch immer spürbar, und man konnte als Besucher nie wissen, ob die eigene Anwesenheit sie hervorgerufen hatte oder ob sie nur etwas waren, was stets vorhanden und durch die eigene Anwesenheit im Gegenteil sogar eingedämmt worden war. Eine dritte Möglichkeit bestand natürlich darin, dass diese Spannungen bloß »Spannungen« waren, also etwas, das sich ausschließlich in meinem Kopf abspielte.
Der Gang zwischen den Sitzreihen hatte sich geleert, und ich stand auf, hob Tasche und Jacke aus dem Gepäckfach und ging nach vorn, verließ die Maschine und nahm den Korridor in die Ankunftshalle, die klein, aber angesichts ihres Gewirrs aus Gängen, Kiosken und
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