Sterben: Roman (German Edition)
Tonjes Vater ja sagen. Dann soll er entscheiden.«
»Wenn wir zurück sind, rufe ich ihn an«, sagte ich.
Das letzte Auto, einer dieser neuen, hässlichen Käfer, fuhr vorbei. Einzelne Regentropfen landeten auf der Windschutzscheibe, und mir fiel der Regen von vorhin ein, der eingesetzt, es sich dann aber anders überlegt und bei den wenigen Tropfen belassen hatte. Diesmal hörte es nicht auf zu regnen. Als Yngve im nächsten Moment blinkte und abwärts fuhr, tat er dies mit eingeschalteten Scheibenwischern.
Sommerregen.
Oh, die Tropfen, die auf den trockenen, heißen Asphalt fallen und zunächst verdampfen oder vom Staub absorbiert werden, aber dennoch ihren Teil des Jobs erledigen, denn wenn der nächste Tropfen fällt, ist der Asphalt kälter, der Staub feuchter, und so breiten sich dunkle Flecken aus, um sich anschließend zu vereinigen, und der Asphalt liegt nass und schwarz. Oh, die heiße Sommerluft, die sich jäh abkühlt, so dass der Regen, der einem aufs Gesicht fällt, wärmer ist als sie, und man legt den Kopf in den Nacken, um das ganz eigene Gefühl zu genießen, das so entsteht. Die Blätter an den Bäumen, die unter der leichten Berührung der Tropfen erzittern, das schwache, kaum zu hörende Geräusch des Regens, der in allen Höhenlagen auf die Erde fällt: auf den narbigen Fels am Straßenrand und die Grashalme im Graben darunter, auf das Hausdach auf der anderen Straßenseite und den Sitz des Fahrrads, das dort abgeschlossen am Zaun steht, auf die Hollywoodschaukel im Garten dahinter und die Verkehrsschilder, auf den Rinnstein und die Kühlerhauben und die Dächer der geparkten Autos.
Wir hielten an der Ampel, der Regen war stärker geworden, die Tropfen waren jetzt groß und schwer. Die ganze Gegend um die Kreuzung Rundingen hatte sich binnen weniger Sekunden verändert. Die Dunkelheit des Himmels ließ alle Lichter deutlicher hervortreten, während der Regen, der mittlerweile sogar von der Erde hochspritzte, sie verschleierte. Die Autos fuhren mit eingeschalteten Scheibenwischern, die Fußgänger liefen mit Zeitungen über dem Kopf oder hochgezogenen Kapuzen, um irgendwo Schutz zu finden, es sei denn, sie hatten einen Regenschirm mitgenommen und konnten ihren Weg somit fortsetzen, als wäre nichts passiert.
Dann bekamen wir Grün und fuhren zur Brücke, an dem alten Musikinstrumentengeschäft vorbei, das längst zugemacht hatte, und zu dem Jan Vidar und ich jeden Samstagvormittag getrabt waren, wenn wir in allen Musikgeschäften der Stadt vorbeischauten, und weiter über die Lunds-Brücke. Meine allererste Kindheitserinnerung ging auf sie zurück. Ich war mit Großmutter über die Brücke gegangen und hatte auf ihr einen alten, sehr alten Mann mit einem weißen Bart und weißen Haaren gesehen, er ging am Stock, und sein Rücken war gekrümmt. Ich blieb stehen, um ihn mir anzusehen, Großmutter zog mich weiter. Unten im Büro meines Vaters hing ein Plakat, und als ich einmal zusammen mit Vater und dem Nachbarn Ola Jan, der in derselben Schule unterrichtete wie Vater, der Gesamtschule Roligheden, auch er im Fach Norwegisch, dort war, zeigte ich auf das Plakat und sagte, ich sei dem darauf abgebildeten Mann begegnet. Denn es war der gleiche weißhaarige, weißbärtige und gekrümmte Mann. Dass er auf einem Plakat im Büro meines Vaters hing, fand ich nicht weiter seltsam, ich war vier Jahre alt, und nichts in der Welt war unverständlich, alles hing mit allem zusammen. Vater und Ola Jan lachten jedoch. Sie lachten und erklärten, das sei unmöglich. Das ist Ibsen, sagten sie. Er ist seit fast hundert Jahren tot. Aber ich war mir sicher, es war derselbe Mann, und das sagte ich auch. Aber sie schüttelten nur den Kopf, und jetzt lachte Vater nicht mehr, als ich auf Ibsen zeigte und erklärte, ich hätte ihn gesehen, sondern scheuchte mich hinaus.
Das Wasser unter der Brücke war grau und von dem Regen, der auf die Oberfläche schlug, voller Ringe. Aber es gab auch einen Grünton in ihm, wie überall dort, wo das Flusswasser der Otra auf das Meerwasser traf. Wie oft hatte ich dort gestanden und die Strömungen unter mir beobachtet? Manchmal floss das Wasser abwärts wie ein Fluss, wallte dann jedoch auf und bildete kleine Wirbel. Ab und zu schäumte es rings um die Pfeiler weiß.
Jetzt war es allerdings still. Zwei Spitzkähne, beide mit geöffnetem Klappverdeck, tuckerten zur Mündung hinaus. Zwei rostige Kähne lagen auf der anderen Seite am Kai, dahinter ein glänzend weißes
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