Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
Zigarettenkippe auf der Erde aus und sah mich nach einer Stelle um, an der ich sie ablegen konnte, fand aber keine geeignete und steckte sie deshalb in die Tasche.
    Angesichts der Berge zu allen Seiten hatte man das Gefühl, in einem riesigen Gewölbe zu stehen. Es hing nach wie vor ein Hauch von etwas Sanfterem und Wärmeren in der Luft, wie es in Westnorwegen im Herbst so oft der Fall ist.
    »Meinst du, wir können ihn fragen, ob er ein Gedicht für uns lesen will?«, sagte Espen.
    »Wenn du dich traust«, sagte ich und sah Asbjørn weiter vorne lächeln. Hauge mochte für Espen ein Dichter sein, aber für Asbjørn war er eine Legende, und nun durfte er sich alle Zeit der Welt nehmen, um ihn zu fotografieren. Als sie fertig waren, gingen wir gemeinsam ins Wohnzimmer, um unsere Sachen zu holen. Ich zog ein Buch heraus, das ich unterwegs in einer Buchhandlung gekauft hatte, Hauges Gesammelte Gedichte, und fragte ihn, ob er es für meine Mutter signieren könne.
    »Wie heißt sie?«, sagte er.
    »Sissel«, antwortete ich.
    »Und weiter?«
    »Hatløy. Sissel Hatløy.«
    Für Sissel Hatløy mit einem Gruß von Olav H Hauge schrieb er und gab es mir zurück.
    »Danke«, sagte ich.
    Als wir uns auf den Weg machten, begleitete er uns zur Tür. Espen bereitete mit dem Rücken zu ihm das Buch vor und drehte sich dann plötzlich mit einem Gesicht, das voller Verlegenheit und Hoffnung war, zu Hauge um.
    »Könnten Sie vielleicht ein Gedicht für uns lesen?«
    »Sicher, warum nicht?«, sagte Hauge. »Welches wollen Sie denn hören?«
    »Vielleicht das mit der Katze?«, meinte Espen. »Auf dem Hof? Das passt hier doch eigentlich ganz gut, hehehe.«
    »Dann will ich mal sehen«, sagte Hauge. »Hier haben wir es.«
    Und er las.
Die Katze
sitzt im Vorhof,
wenn du kommst.
Sprich ein wenig mit der Katze.
Sie ist es, auf dem Hof die Gewahrsamste.
    Alle lächelten, auch Hauge.
    »Das war ja ein kurzes Gedicht«, meinte er. »Wollt ihr noch eins hören?«
    »Gern!«, sagte Espen.
    Er blätterte ein wenig, dann begann er wieder zu lesen.
Zeit, zu ernten
Diese milden Sonnentage im September.
Zeit, zu ernten. Noch gibt es Buckel
mit Kronsbeeren im Wald, Hagebutten röten sich
entlang der Steinwälle, Nüsse fallen
und schwarze Trauben von Brombeeren
glänzen im Gestrüpp,
die Drossel sucht nach den letzten Johannisbeeren,
und die Wespe saugt die süßen Pflaumen aus.
Am Abend stell ich die Leiter weg und hänge
meinen Korb in den Schuppen. Magerer Firn
hat schon eine dünne Lage von Neuschnee.
Im Bett liegend höre ich das Tuckern der Sprottenfischer,
sie fahren aus. Die ganze Nacht, weiß ich, gleiten sie
mit starken Scheinwerfern suchend über den Fjord.
    Als wir auf dem Hof standen und zu Boden sahen, während er las, überlegte ich, dass dies ein großer und privilegierter Moment war, aber auch dieser Gedanke wurde von etwas anderem überlagert, denn der Augenblick, den das Gedicht, gelesen von seinem Autor am Ort seiner Entstehung, in Besitz nahm, war so viel größer als wir, er gehörte zum Unendlichen, und wie sollten wir, so jung und kaum klüger als drei Spatzen, ihn aufnehmen? Das konnten wir nicht, und zumindest ich wand mich ein wenig, während er las. Es war kaum auszuhalten. Ein Witz hätte gepasst, um dem Alltäglichen, in dem wir gefangen waren, wenigstens eine Form zu geben. Oh, die Schönheit, wie sollte man mit ihr umgehen? Wie sollte man ihr begegnen?
    Als wir gingen, hob Hauge die Hand zu einem kurzen Gruß und war bereits im Haus verschwunden, als Asbjørn den Wagen anließ und auf die Straße fuhr. Ich fühlte mich wie nach einem ganzen Tag in der Sommersonne, erschöpft und schwer, obwohl man nichts anderes getan hatte, als irgendwo reglos und mit geschlossenen Augen auf einem Felsen zu liegen. Asbjørn fuhr ein Café an, um seine Freundin Kari abzuholen, die dort in der Zwischenzeit gewartet hatte. Nachdem wir ein paar Minuten darüber gesprochen hatten, wie es gewesen war, wurde es still im Wagen, wir schwiegen und sahen aus den Fenstern, betrachteten die Schatten, die sich draußen streckten, die Farben, die immer tiefer wurden, den Wind vom Fjord, der den Menschen die Haare zerzauste, die flatternden Zeitungswimpel vor den Kiosken, die Kinder auf ihren Fahrrädern, diese allgegenwärtigen Dorfkinder auf ihren Fahrrädern. Als ich nach Hause kam, fing ich sofort an, das Interview vom Tonband niederzuschreiben, da ich aus Erfahrung wusste, dass der Widerstand gegen die Stimmen und die Fragen und alles, was

Weitere Kostenlose Bücher