Sterben: Roman (German Edition)
Gesprächs. Meine eigenen Fragen zielten fast im gleichen Maße darauf ab, was an unserem Tisch geschah, wie auf das, was in Fløgstads Büchern geschah, und zwar so, dass sie eher gestellt wurden, um etwas an der Situation zu ergänzen oder zu kompensieren. Das Interview dauerte eine Stunde, und als wir ihm die Hand gegeben und für seine Gesprächsbereitschaft gedankt hatten und er sich in die Richtung entfernte, in der wir seine Wohnung vermuteten, waren wir aufgekratzt und guter Dinge, denn das war doch gut gelaufen, oder etwa nicht? Wir hatten mit Fløgstad gesprochen. So aufgekratzt waren wir, dass keiner von uns Lust hatte, sich hinzusetzen und ein Referat dessen aufzuzeichnen, was er gesagt hatte, das konnten wir am nächsten Tag erledigen, denn es war Samstag, bald würde das Totospiel im Fernsehen übertragen werden, wir konnten es uns in einer Kneipe ansehen und danach weiterziehen, immerhin kamen wir nicht so oft nach Oslo … Am nächsten Tag ging unser Zug zurück, weshalb wir auch keine Zeit hatten, etwas schriftlich zu fixieren, und als wir nach Hause kamen, ging jeder zu sich. Und wenn wir schon drei Tage damit gewartet hatten, konnten wir dann nicht noch weitere drei warten? Und noch drei und noch drei? Als wir uns endlich zusammensetzten, gab es nicht mehr viel, woran wir uns erinnerten. Die Fragen hatten wir natürlich, sie waren uns eine große Hilfe, und ansonsten hatten wir eine vage Ahnung davon, was er zu bestimmten Themen gemeint hatte, teils basierend auf dem, woran wir uns tatsächlich erinnerten, teils auf dem, was er unserer Vermutung nach meinen konnte. Es war meine Aufgabe, das Ganze aufzuschreiben, ich hatte den Auftrag bekommen, und als ich ein paar Seiten zusammengeschustert hatte, begriff ich, so ging es nicht, es war zu vage und zu ungenau, so dass ich Yngve vorschlug, Fløgstad anzurufen und ihn zu fragen, ob wir ihm telefonisch einige ergänzende Fragen stellen dürften. Wir setzten uns an den Tisch in Yngves Zimmer in seiner Wohnung im Stadtteil Blekebakken und kritzelten ein paar neue Fragen aufs Papier. Mein Herz pochte, als ich Fløgstads Nummer wählte, und es wurde nicht besser, als seine reservierte Stimme sich am anderen Ende der Leitung meldete. Aber ich schaffte es, mein Anliegen zu formulieren, und er erklärte sich einverstanden, uns eine weitere halbe Stunde seiner Zeit zu schenken, obwohl ich aus seiner Stimme heraushörte, dass ihm der Zusammenhang schwante. Während ich die Fragen stellte und er antwortete, saß Yngve wie ein Geheimagent im Nebenzimmer am zweiten Apparat und hielt alles fest, was gesagt wurde. Damit hatten wir das. Zwischen all dem Ungefähren und Vagen fügte ich die neuen Sätze ein, die in ganz anderer Weise echt waren und auch den Sätzen in ihrem Umfeld ein Flair von Authentizität verliehen. Als ich darüber hinaus eine generelle Einführung in Fløgstads Werk sowie mehrere eher faktenorientierte oder analytische Einschübe verfasste, sah das Ganze gar nicht mal so übel aus. Tatsächlich sah es ziemlich gut aus. Fløgstad hatte darum gebeten, das Interview gegenlesen zu dürfen, ehe es in Druck ging, so dass ich es ihm mit ein paar freundlichen Worten schickte. Ob er immer forderte, seine Interviews vorab lesen zu dürfen, oder ob das nur für uns beide galt, die wir dummdreist genug gewesen waren, das Gespräch ohne Notizen zu führen, wusste ich nicht, aber da ich dem Text am Ende den richtigen Schwung gegeben hatte, machte mir das auch keine Sorgen. Ein vages Unbehagen angesichts der ungefähren Passagen war sicherlich vorhanden, aber ich tat es ab, denn meines Wissens war man nicht verpflichtet, den Interviewten wörtlich wiederzugeben. Als ein paar Tage später Fløgstads Antwortschreiben im Briefkasten steckte und ich es in der Hand hielt, ahnte ich folglich nichts Böses. Meine Handflächen waren trotzdem schwitzig, und mein Herz schlug schnell. Es war Frühling geworden, die Sonne wärmte, ich hatte Joggingschuhe, ein T-Shirt und eine Jeans an und war auf dem Weg zum Konservatorium, wo ein Freund meines Cousins Jon Olav mir Schlagzeugunterricht geben sollte. Am besten hätte ich den Brief ungeöffnet in die Wohnung gelegt, denn ich war spät dran, aber ich war zu neugierig und öffnete ihn, während ich langsam in Richtung Bushaltestelle schlenderte. Zog den Computerausdruck des Interviews heraus. Er war voller roter Striche und Randnotizen. »Das habe ich niemals gesagt«, las ich. »Ungenau«, las ich. »Nein, nein«, las ich.
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