Sterben: Roman (German Edition)
erwähnte, während er zu Boden starrte, nannte er so beiläufig, als müsste jeder sie kennen. Wir hatten noch nie von ihnen gehört, und das Ganze erschien, wenn nicht kryptisch, so doch ohne einen wirklichen Sinn, der über das rein Private hinausginge. Ich stellte eine Frage zum Übersetzen, Asbjørn eine weitere, sie wurden in gleicher Weise beantwortet, mit enormer Beiläufigkeit, als säße er einfach bloß da und spräche mit sich selbst. Oder mit dem Fußboden. Als Interview war es eine Katastrophe. Aber dann, nach ungefähr einer Stunde in diesem Stil, tauchte ein neues Auto auf dem Hof auf. Es waren Leute vom Norwegischen Rundfunk Hordaland, die wollten, dass Hauge ein Gedicht las, und sie gingen an die Arbeit, hatten aber ein Kabel vergessen und mussten noch einmal zurückfahren und es holen, und als das passierte, schwenkte Hauge um, plötzlich behandelte er uns freundlich, scherzte und lächelte, denn jetzt hieß es, wir gegen den Rundfunk, und das Eis war gebrochen, denn als die Leute vom Rundfunk die Aufnahmen im Kasten hatten und abgezogen waren, hielt seine Freundlichkeit an, und er war in ganz anderer Weise präsent und offen. Seine Frau kam mit einem frisch gebackenen Apfelkuchen zu uns, und als wir gegessen hatten, führte er uns durchs Haus, nahm uns mit in seine Bibliothek in der ersten Etage, wo er auch schrieb, und ich sah, dass auf dem Schreibtisch ein Notizbuch lag, auf dessen Umschlag »Tagebuch« stand, und dort oben zog er Bücher heraus und sprach über sie, unter anderem eins von Julia Kristeva, erinnere ich mich, weil ich dachte, das hast du bestimmt nicht gelesen , denn Hauge hatte ja nie eine Universität besucht, und wenn du es gelesen hast, dann hast du es jedenfalls nicht verstanden , und dann, als wir die Treppe hinunterstiegen, sagte er etwas ungeheuer Elektrisierendes und Bedeutsames über den Tod, in einem resignierten und lakonischen Tonfall, aber nicht ohne Ironie, und ich dachte, das muss ich mir merken, das ist wichtig, das muss ich mir für den Rest meines Lebens merken, aber schon als wir im Auto saßen, auf dem Heimweg am Hardangerfjord entlang, hatte ich es vergessen. Ein paar Schritte hinter mir ging er in dem Moment, Espen und Asbjørn waren bereits draußen, es wurde Zeit, Fotos zu machen. Während Hauge ein Bein über das andere geschlagen auf der Steinbank saß und in die Ferne sah, und Asbjørn ihn, im einen Augenblick in der Hocke, im nächsten aufgerichtet, aus verschiedenen Blickwinkeln knipste, standen Espen und ich ein paar Meter entfernt und rauchten. Es war ein schöner Herbsttag, kalt und klar; als wir am Morgen in Bergen losgefahren waren, hatte Nebel über dem Fjord gehangen. Das Laub der Bäume an den Berghängen war gelb und rot, der Fjord unter uns spiegelglatt, die Wasserfälle weiß und groß. Ich war froh, das Interview war vorbei und gut gelaufen, aber es hatte mich auch aufgewühlt, denn irgendetwas an Hauge machte mich unruhig. Etwas, das nicht ruhen wollte, ohne dass ich gewusst hätte, woher es rührte. Er war ein alter Mann und trug die Kleider eines alten Mannes, Flanellhemd und Altherrenhose, Pantoffeln und Hut, und hatte den Gang eines alten Mannes, trotzdem war nichts Greisenhaftes an ihm, wie man es beipielsweise bei Großvater oder Alf, dem Onkel meines Vaters, erlebte, im Gegenteil, als er sich uns plötzlich öffnete und uns Dinge zeigen wollte, tat er dies treuherzig kindlich, unendlich freundlich, aber auch unendlich verletzlich, so wie ein Junge, der keine Freunde hatte, auftrat, wenn sich plötzlich jemand für ihn interessierte, könnte man sich beispielsweise vorstellen, undenkbar bei Großvater oder Alf, es war sicherlich mehr als sechzig Jahre her, dass sie sich auf diese Weise einem anderen Menschen geöffnet hatten, wenn sie es denn überhaupt jemals getan hatten. Oder nein, er hatte sich uns nicht geöffnet, es schien mir eher, als wäre das sein natürlicher Zustand gewesen, der hinter seiner abweisenden Haltung bei unserer Ankunft verborgen gelegen hatte. Ich hatte etwas gesehen, das ich nicht sehen wollte, weil der Mann, der es mir zeigte, nicht wusste, wie es aussah. Er war über achtzig Jahre alt, aber in ihm war nichts gestorben oder erstarrt, was das Leben im Grunde viel zu schmerzhaft macht, denke ich heute. Damals machte es mich nur unruhig.
»Können wir noch ein paar Fotos bei den Apfelbäumen machen?«, sagte Asbjørn.
Hauge nickte, stand auf und folgte Asbjørn zu den Bäumen. Ich bückte mich, drückte die
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