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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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»???«, sah ich. »Wo habt ihr das denn her?«, las ich. Praktisch jeder Satz war in irgendeiner Weise markiert. Ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte aufs Papier. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Geradewegs in die Dunkelheit fiel ich. Das kurze Begleitschreiben las ich, sobald ich dazu in der Lage war, in einem fieberhaften Tempo, als wäre die Demütigung überstanden, sobald das letzte Wort gelesen war. »Ich denke, es wird das Beste sein, wenn dieser Text nirgendwo gedruckt wird«, hieß es abschließend. »Mit freundlichen Grüßen, Kjartan Fløgstad.« Als ich mich wieder in Bewegung setzte, mit schleppenden Schritten, denn ich sah seine roten Striche im Gehen immer wieder durch, war ich vollkommen durcheinander. Erhitzt vor Scham, den Tränen nahe, steckte ich den Brief in die hintere Hosentasche und blieb vor dem Bus stehen, der im selben Moment gekommen war, stieg ein und setzte mich ganz hinten auf einen Fensterplatz. Während der Bus im Schneckentempo bergaufwärts Richtung Haukelandområdet fuhr, schämte ich mich in Grund und Boden, und mir schossen pausenlos die immer gleichen Gedanken durch den Kopf. Ich war nicht gut genug, ich war kein Schriftsteller und würde niemals einer werden. Worüber wir uns so gefreut hatten, dass wir mit Fløgstad sprechen durften, war jetzt nur noch lächerlich und schmerzhaft. Als ich nach Hause kam, rief ich Yngve an, der die Sache zu meinem Erstaunen relativ gelassen nahm. Das ist natürlich schade, meinte er. Bist du dir sicher, dass du den Text nicht nachbessern und ihm eine neue Version schicken kannst? Als sich die schlimmste Verzweiflung gelegt hatte, las ich mir die Randnotizen und das Begleitschreiben noch einmal durch und sah, dass Fløgstad auch meine eigenen Kommentare kommentiert hatte, zum Beispiel das Adjektiv »Cortazar-haft«, und das konnte er doch eigentlich nicht machen, oder? Sich in das einzumischen, was ich über seine Bücher schrieb? Meine Urteile? Ich schrieb ihm in einem Brief, dass unser Interview an einigen Stellen gewiss von Ungenauigkeiten geprägt sei, aber manches habe er tatsächlich gesagt, das wisse ich, denn während des Telefoninterviews hätte ich mir Notizen gemacht, und außerdem habe er Einwände gegen meine Kommentare erhoben, also die des Journalisten, und damit seine Befugnisse überschritten. Wenn er dies wünsche, könnte ich von seinen Korrekturen und Anmerkungen ausgehend möglicherweise ein weiteres Telefoninterview mit ihm führen und ihm anschließend eine neue Version schicken? Ein paar Tage später antwortete er in einem höflichen, aber bestimmten Brief, in dem er mir darin Recht gab, dass einige seiner Kommentare sich auf meine Interpretationen bezogen hätten, dies ändere jedoch nichts an dem eigentlichen Punkt, dass dieses Interview nicht in den Druck gehen dürfe. Als es mir gelang, die Demütigung abzuschütteln, wofür ich ungefähr ein halbes Jahr brauchte, eine Phase, in der ich weder Fløgstads Gesicht noch seine Bücher oder Artikel sehen konnte, ohne mich zu Tode zu schämen, machte ich aus der Episode eine Anekdote, über die man lachen konnte. Dass dies auf unsere Kosten geschah, passte Yngve nicht, denn er sah nichts Komisches im Erniedrigenden, oder richtiger, er sah nichts Erniedrigendes. Die Fragen waren gut gewesen, das Gespräch mit Fløgstad sinnvoll, das war es, was er mitnehmen wollte.
    Mein Leben in Bergen rührte sich vier Jahre lang praktisch nicht vom Fleck, es passierte nichts, ich wollte schreiben, aber es gelang mir nicht, und das war im Wesentlichen alles. Yngve machte an der Uni seine Scheine und führte das Leben, das er führen wollte, so wirkte es jedenfalls von außen, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt stagnierte auch seins, er wurde mit seiner Diplomarbeit nicht fertig, arbeitete nicht besonders eifrig an ihr, vielleicht, weil er sich auf früheren Lorbeeren ausruhte, vielleicht weil in seinem Leben so viel anderes geschah. Nachdem er die Arbeit, in der es um das Starsystem im Film ging, schließlich doch abgegeben hatte, war er eine Zeit lang arbeitslos, während ich zur gleichen Zeit Zivildienstleistender beim Studentensender wurde und allmählich in ein anderes Milieu als seines eintauchte und vor allem Tonje kennenlernte, in die ich mich bis über beide Ohren verliebte, so dass wir im Winter ein Paar wurden. Mein Leben hatte eine radikale Wende genommen, ohne dass ich es selber begriff, denn ich klebte seit vielen Jahren an einem Bild von meinem Dasein, das ich in

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