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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sich flüchtig mit der Hand durchs Haar.
    »Putzen ist noch nie ihre Stärke gewesen«, erklärte sie.
    »Es sah hier doch eigentlich immer ganz gut aus, oder nicht?«, sagte ich.
    Sie lächelte kurz und schüttelte den Kopf.
    »Oh, nein. So mag es vielleicht ausgesehen haben, aber im Grunde … Seit ich in diesem Haus aus- und eingehe, ist es immer schmutzig gewesen. Na ja, nicht überall, aber in den Ecken. Unter den Möbeln. Unter den Teppichen. Du weißt schon, wo man es nicht so sieht.«
    »Tatsächlich?«, sagte ich.
    »Oh, ja. So gesehen ist sie nie eine richtige Hausfrau gewesen.«
    »Mag sein«, erwiderte ich.
    »Aber sie hätte etwas Besseres verdient gehabt als das hier. Wir haben geglaubt, dass ihr nach Großvaters Tod noch ein paar schöne Jahre beschert sein würden. Weißt du, wir hatten ihr eine Haushaltshilfe besorgt, die sich um das ganze Haus gekümmert hat.«
    Ich nickte.
    »Das habe ich gehört«, sagte ich.
    »Für uns war das natürlich auch eine Stütze. Denn wir haben ihr ja immer geholfen. Bei allem Möglichen. Sie sind ja schon lange alt gewesen. Und weil dein Vater war, wie er nun einmal war, und Erling in Trondheim lebt, blieb alles an uns hängen.«
    »Ich weiß«, sagte ich, breitete die Arme halb aus und hob gleichzeitig die Augenbrauen, um ihr mit dieser Geste zu zeigen, dass ich mir ihr sympathisierte, aber selbst nichts hatte tun können.
    »Aber jetzt muss sie in ein Heim und betreut werden. Sie so zu sehen ist furchtbar.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie lächelte erneut.
    »Wie geht es Sissel?«
    »Gut«, sagte ich. »Sie wohnt in Jølster, ich glaube, es gefällt ihr dort. Sie arbeitet in der Krankenpflegeschule in Førde.«
    »Grüß sie von mir, wenn du mit ihr sprichst«, sagte Tove.
    »Das mache ich gern«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln. Tove griff erneut nach dem Lappen, und ich ging die Treppe hinunter, die ich ungefähr halb fertig hatte, setzte den Eimer ab, wrang den Lappen aus und spritzte einen Striemen Viss auf den Handlauf.
    »Karl Ove?«, rief Yngve.
    »Ja?«, sagte ich.
    »Komm mal kurz.«
    Er stand vor dem Spiegel im Flur. Neben ihm auf dem Ölofen lag ein dicker Stapel Papier. Seine Augen glänzten.
    »Sieh mal«, sagte er und reichte mir einen Umschlag, der an Ylva Knausgård, Stavanger, adressiert war und in dem sich ein Blatt Papier befand, auf dem Liebe Ylva! stand, ansonsten jedoch nichts.
    »Er hat ihr geschrieben? Von hier aus?«, sagte ich.
    »Sieht ganz so aus«, meinte Yngve. »Vermutlich zu ihrem Geburtstag oder so. Aber dann hat er aufgegeben. Schau hier, er hatte unsere Adresse nicht.«
    »Ich dachte, er wüsste im Grunde gar nicht, dass sie existiert«, sagte ich.
    »Das wusste er offenbar«, sagte Yngve. »Er muss sogar an sie gedacht haben.«
    »Sie ist immerhin sein erstes Enkelkind«, sagte ich.
    »Stimmt«, erwiderte Yngve. »Aber wir reden hier trotz allem von Vater. Das heißt noch gar nichts.«
    »Verdammt«, sagte ich. »Wie traurig das alles ist.«
    »Ich habe noch was gefunden«, meinte Yngve. »Sieh mal.«
    Diesmal reichte er mir einen maschinengeschriebenen, offiziell aussehenden Brief. Er stammte von der Staatlichen Darlehenskasse für Ausbildung. Vater wurde darin mitgeteilt, dass er sein Studiendarlehen endgültig zurückgezahlt hatte.
    »Wirf mal einen Blick auf das Datum«, sagte Yngve.
    Ich las. 29. Juni.
    »Zwei Wochen vor seinem Tod«, sagte ich und begegnete Yngves Blick. Wir mussten lachen.
    »Hehehe«, lachte er.
    »Hehehe«, lachte ich. »So viel zum Thema Freiheit. Hehehe!«
    »Hehehe!«

Als Gunnar und Tove eine Stunde später wegfuhren, herrschte im Haus wieder eine andere Stimmung. Nur von uns und Großmutter bevölkert, schienen sich die Zimmer wieder um das zu schließen, was geschehen war, als wären wir zu schwach, um sie zu öffnen. Vielleicht waren wir dem, was vorgefallen war, aber auch zu nahe und in einem weitaus größeren Maße ein Teil davon, als Gunnar und Tove es waren. Jedenfalls erstarrte der Strom aus Leben und Bewegung, und jedes Objekt dort, der Fernseher, die Sessel, die Couch, die Schiebetür zwischen den Zimmern im ersten Stock, das schwarze Klavier, die zwei Barockgemälde, die darüber an der Wand hingen, zeigten sich als das, was sie waren, schwer, unverrückbar, erfüllt von Vergangenheit. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen. Die gräulich weiße Schicht am Himmel dämpfte alle Farben der Landschaft. Yngve sortierte Papiere, ich putzte die Treppe, Großmutter saß in der Küche in

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