Sterben: Roman (German Edition)
aus, stand auf und ging zu Großmutter hinein, die fernsah.
»Deine Möwe ist wieder da«, sagte ich. »Soll ich ihr ein bisschen Lachs geben?«
»Was?«, sagte sie und wandte den Kopf in meine Richtung.
»Die Möwe ist hier«, sagte ich. »Soll ich ihr was Lachs geben?«
»Oh«, sagte sie. »Weißt du was, das kann ich doch machen.«
Sie kam auf die Beine und ging gebeugt in die Küche. Ich griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab, ging anschließend in das verwaiste Esszimmer und setzte mich ans Telefon. Wählte unsere Nummer.
»Hallo, hier spricht Tonje?«
»Hallo, ich bin’s, Karl Ove.«
»Oh, hallo … «
»Hallo.«
»Wie geht es dir?«
»Nicht besonders«, antwortete ich. »Es ist hart, hier zu sein. Ich weine fast die ganze Zeit. Aber ich weiß im Grunde nicht, warum ich weine. Weil Vater gestorben ist, natürlich. Aber das ist nicht alles …«
»Ich sollte bei dir sein«, sagte sie. »Ich sehne mich nach dir.«
»Das ist ein Totenhaus«, sagte ich. »Wir laufen hier herum und waten in seinem Tod. Er ist in dem Sessel direkt hinter mir gestorben, er steht noch da. Und dann hängt hier alles Mögliche in der Luft, was hier passiert ist, ich meine, früher, als ich ein Kind war, das schwingt auch noch alles mit und kommt hoch. Verstehst du? Ich bin dem Ganzen irgendwie ganz nahe. Dem Menschen, der ich als Kind war. Dem Menschen, der Vater damals war. Alle Gefühle von damals kommen wieder hoch.«
»Du Ärmster«, sagte sie.
Durch die Tür vor mir trat Großmutter mit einem Stück Lachs auf einem Teller in den Händen. Sie sah mich nicht. Ich hielt inne, bis sie im anderen Zimmer war.
»Nein, ich brauche dir nicht leidzutun«, sagte ich. »Er muss einem leidtun. Sein Leben war am Ende so grauenvoll, du würdest es nicht glauben.«
»Und wie kommt deine Großmutter damit zurecht?«
»Ich weiß nicht. Sie steht irgendwie unter Schock. Wirkt fast senil. Außerdem ist sie verdammt dürr. Sie haben hier nur herumgesessen und getrunken. Beide.«
»Sie auch? Deine Großmutter auch?«
»Ja, sicher. Es ist nicht zu fassen. Aber wir haben beschlossen, alles in Schuss zu bringen und die Trauerfeier hier abzuhalten.«
Durch die verglaste Verandatür sah ich Großmutter den Teller abstellen. Sie trat ein, zwei Schritte zurück und schaute sich um.
»Klingt gut«, meinte Tonje.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Jedenfalls ist es das, was wir tun werden. Dieses ganze verdammte Haus putzen und anschließend schmücken. Decken und Blumen kaufen und …«
Yngve steckte den Kopf zur Tür herein. Als er sah, dass ich telefonierte, hob er die Augenbrauen leicht an und zog sich wieder zurück, und im selben Moment kam Großmutter von der Veranda herein. Sie stellte sich ans Fenster und sah hinaus.
»Ich komme einen Tag früher«, sagte Tonje. »Dann kann ich dir helfen.«
»Die Beerdigung ist am Freitag«, sagte ich. »Nimmst du dir einen Tag frei?«
»Ja. Dann komme ich am Vormittag. Ich vermisse dich so.«
»Und was hast du heute so gemacht?«
»Ach, nichts Besonderes. Ich war bei Mutter und Hans und habe bei ihnen gegessen. Ich soll dich von ihnen grüßen, sie denken an dich.«
»Das ist nett von ihnen«, sagte ich. »Was habt ihr denn gegessen?«
Tonjes Mutter war eine fantastische Köchin; bei ihr zu essen war ein Erlebnis, wenn man eine Ader für gutes Essen hatte. Die hatte ich nicht, Essen war mir völlig egal, ich konnte genauso gut Fischstäbchen wie gebackenen Heilbutt, Würstchen wie Filet à la Wellington essen, aber Tonje interessierte sich dafür, ihre Augen leuchteten, wenn sie anfing, über Essen zu reden, und sie war selbst eine talentierte Köchin, die es genoss, in der Küche zu arbeiten; selbst wenn sie nur Pizza machte, war sie mit ganzem Herzen bei der Sache. Sie war der sinnlichste Mensch, dem ich jemals begegnet war. Und nun war sie mit einem Menschen liiert, für den Mahlzeiten, Gemütlichkeit und Nähe bloß notwendige Übel waren.
»Scholle. Es war also schon ganz gut, dass du nicht da warst.«
Ich hörte, dass sie grinste.
»Aber sie hat fantastisch geschmeckt.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte ich. »Waren Kjetil und Karin auch da?«
»Ja. Und Atle.«
In ihrer Familie war wie in allen Familien viel passiert, aber darüber sprachen sie nicht, wenn die Ereignisse folglich irgendwo manifest wurden, dann in jedem Einzelnen von ihnen und in den Stimmungen, die sie gemeinsam schufen. Zu den Eigenschaften, die Tonje an mir am liebsten mochte, ahnte ich,
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