Sterben: Roman (German Edition)
geöffnet. Was wenige Stunden zuvor eine einfache, aber kompakte Wolkendecke gewesen war, hing jetzt in landschaftsähnlichen Formationen landeinwärts in einem Abgrund mit langgestreckten Hängen, steilen Wänden und jähen Zacken, an manchen Stellen weiß und üppig wie Schnee, andernorts grau und hart wie Fels, während die großen Flächen, die von der untergehenden Sonne beschienen wurden, nicht leuchteten oder strahlten oder rötlich glühten, wie sie es sonst oft taten, sondern eher wirkten, als wären sie in eine Flüssigkeit getaucht worden. Mattrot, dunkelrosa hingen sie, umgeben von allen erdenklichen Nuancen von Grau, über der Stadt. Die Kulisse war wild und schön. Im Grunde müssten alle Menschen auf die Straßen strömen, dachte ich, müssten die Autos anhalten, die Türen geöffnet werden und die Fahrer und Fahrgäste mit erhobenen Köpfen und vor Neugierde und Sehnsucht funkelnden Augen aussteigen, denn was spielte sich da eigentlich direkt über unseren Köpfen ab?
Stattdessen wurde höchstens ein Blick in diese Richtung geworfen, möglicherweise gefolgt von einzelnen Kommentaren darüber, dass der Himmel heute Abend schön war, denn ein solcher Anblick war ja nicht einzigartig, im Gegenteil, es verging fast kein Tag, ohne dass der Himmel voller fantastischer Wolkenformationen war, jede einzelne in einmaliger, sich niemals wiederholender Weise beleuchtet, und weil das, was man immer sieht, etwas ist, was man nie sieht, lebten wir unter diesem sich stetig verändernden Himmel, ohne ihn eines Gedankens oder eines Blickes zu würdigen. Warum sollten wir auch? Hätten die unterschiedlichen Formationen einen Sinn gehabt, hätten sich beispielsweise Zeichen und Nachrichten für uns in ihnen verborgen, die es korrekt zu entschlüsseln gälte, wäre eine kontinuierliche Aufmerksamkeit für diese Vorgänge unumgänglich und verständlich gewesen. Aber so war es nun einmal nicht, die Formen und das Licht der verschiedenen Wolken bedeuteten nichts , wie sie zu bestimmten Zeiten aussahen, ergab sich ausschließlich aus Zufällen, wenn die Wolken also ein Zeichen für irgendetwas waren, dann für die Sinnlosigkeit in ihrer reinsten und vollendetsten Form.
Ich gelangte auf die größere Straße, die ohne Menschen oder Autos vor mir lag, und folgte ihr bis zur Kreuzung, an der ebenfalls Sonntagsstimmung herrschte. Ein älteres Ehepaar ging auf der anderen Straßenseite spazieren, ein paar Autos, die langsam zur Brücke hinunterfuhren, die Ampel, die kurz darauf für niemanden auf Rot umschlug. An der Bushaltestelle neben dem Kiosk hielt ein schwarzer Golf, und der Fahrer, ein junger Mann in Shorts, stieg mit einem Portemonnaie in der Hand aus und eilte zum Kiosk, während der Wagen im Leerlauf lief. Ich begegnete ihm in der Tür, als er den Laden, nun mit einem Eis in der Hand, wieder verließ. War das nicht ein bisschen sehr infantil? Das Auto im Leerlauf anzulassen, um sich ein Eis zu kaufen?
Der Verkäufer im Trainingsanzug vom Vortag war durch eine junge Frau Anfang zwanzig ersetzt worden. Sie war stämmig und hatte schwarze Haare, und wegen ihrer Gesichtszüge, die etwas Persisches hatten, vermutete ich den Iran oder Irak als Herkunftsland. Trotz ihrer runden Wangen und des üppigen Körpers war sie schön. Mich würdigte sie keines Blickes. Ihre Aufmerksamkeit war auf eine Zeitung gerichtet, die aufgeschlagen auf dem Tresen vor ihr lag. Ich zog die Schiebetür des Kühlschranks auf und holte drei Halbliterflaschen Sprite heraus, suchte die Regale nach Chips ab, fand sie, nahm zwei Tüten, legte sie auf den Tresen.
»Und noch einen Beutel Tiedemanns Gelb mit Blättchen«, sagte ich.
Sie drehte sich um und holte den Tabak aus dem Regal hinter ihr.
»Rizla?«, sagte sie, weiterhin ohne meinem Blick zu begegnen.
»Ja, genau«, antwortete ich.
Sie steckte das orange Zigarettenpapier unter die Ecke des gelben Tabakbeutels und legte ihn auf den Tresen, während sie mit der anderen Hand die Preise in die Kasse eintippte.
»Hundertsiebenundfünfzigfünfzig«, sagte sie im breiten Kristiansander Dialekt. Ich gab ihr zwei Hunderter. Sie tippte den Betrag ein und suchte aus der aufgleitenden Kassenschublade das Wechselgeld heraus. Obwohl ich mit ausgestreckter Hand vor ihr stand, legte sie es auf den Tresen.
Warum tat sie das? War was mit mir, hatte sie etwas gesehen, das ihr nicht gefiel? Oder war sie nur unaufmerksam? War es nicht üblich, dass die Verkäuferin dem Blick des Kunden im Laufe der Transaktion
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