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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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er. »Die Frage ist, ob wir ihr nicht was geben sollten. Sie braucht unsere Erlaubnis ja eigentlich nicht, aber sie bittet uns darum. Also … Was meinst du?«
    »Was sagst du da?«
    »Hast du das nicht kapiert?«, sagte er und blickte wieder auf. Ein schwaches, freudloses Lächeln spielte um seine Lippen.
    »Was kapiert?«, sagte ich.
    »Sie will was trinken. Sie ist verzweifelt.«
    »Großmutter?«
    »Ja. Was meinst du, sollen wir ihr was geben?«
    »Bist du sicher, dass es ihr darum geht? Ich habe gedacht, das Gegenteil wäre der Fall.«
    »Das habe ich auch erst gedacht. Aber wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, liegt es eigentlich auf der Hand. Er hat hier lange gewohnt. Wie hätte sie es sonst ertragen sollen?«
    »Sie ist Alkoholikerin ?«
    Yngve zuckte mit den Schultern.
    »Die Sache ist die, dass sie jetzt einen Drink will. Und dazu unsere Erlaubnis benötigt.«
    »Verdammt«, sagte ich. »Was ist das hier nur für eine Hölle.«
    »Ja. Aber es spielt doch eigentlich keine Rolle, wenn sie jetzt was trinkt, oder? Immerhin steht sie unter einer Art Schock.«
    »Und was sollen wir tun?«, sagte ich.
    »Na ja, wir fragen sie einfach, ob sie einen Drink haben will. Und dann genehmigen wir uns einen mit ihr. Was meinst du?«
    »Okay. Aber nicht jetzt gleich, oder?«
    »Wenn wir für heute Schluss machen, fragen wir sie. Als wäre nichts dabei.«
    Eine halbe Stunde später war ich mit dem Regal fertig und ging auf die Terrasse hinaus. Es regnete nicht mehr, und die Luft war voller frischer Gerüche aus dem Garten. Der Tisch war von einer Wasserschicht bedeckt, die Bezüge der Stühle von der Nässe dunkel. Die Plastikflaschen auf dem Zementboden waren auf der Oberseite voller Tropfen. Ihre Hälse erinnerten an Mündungen, so als wären sie kleine Kanonen, deren Läufe in alle Richtungen zielten. An der Unterseite des schmiedeeisernen Zauns hingen in Trauben die Tropfen. In unregelmäßigen Abständen löste sich einer und fiel mit einem kaum hörbaren Klatschen auf den Steinboden herab. Dass Vater sich hier noch vor drei Tagen aufgehalten hatte, war kaum zu glauben. Dass er vor gerade einmal drei Tagen dieselbe Aussicht gesehen hatte, durch dasselbe Haus gegangen war, Großmutter gesehen hatte, wie wir sie sahen, seinen Gedanken nachgehangen hatte, war unfassbar. Obwohl, dass er vor Kurzem hier gewesen war, konnte ich sogar noch verstehen. Nicht aber, dass er dies alles nicht mehr sehen konnte. Die Veranda, die Plastiktüten, das Licht in den Fenstern des Nachbarhauses. Das abgeblätterte Stück gelbe Farbe, das nun auf dem rot gestrichenen Terrassenpflaster lag, direkt neben dem rostigen Tischbein. Die Dachrinne und das Wasser, das immer noch aus dem Fallrohr ins Gras lief. Dass er hiervon nie mehr etwas sehen würde, blieb für mich unfassbar, so sehr ich es auch zu verstehen versuchte. Dass er mich und Yngve nicht mehr sehen würde, begriff ich, es war mit dem Gefühlsleben verbunden, in das der Tod in ganz anderer Weise verwoben war als die objektive, konkrete Wirklichkeit, die mich umgab.
    Nichts, einfach nichts. Nicht einmal Dunkelheit.
    Ich zündete mir eine Zigarette an, strich mit der Hand ein paarmal über die nasse Sitzfläche und setzte mich auf den Stuhl. Es waren nur zwei Zigaretten übrig. Ich musste also noch einmal zum Kiosk, bevor er zumachte.
    Am anderen Ende des Hofs schlich eine Katze am Zaun entlang. Sie war grau getüpfelt und schien schon etwas älter zu sein. Sie blieb mit angehobener Pfote stehen, starrte einen Moment ins Gras, lief dann weiter. Ich dachte an unsere Katze, Nansen, die Tonje über alle Maßen liebte. Sie war erst ein paar Monate alt und schlief unter derselben Decke wie sie, nur der Kopf lugte heraus.
    Ich hatte im Laufe des Tages kein einziges Mal an Tonje gedacht. Nicht ein Mal. Was hatte das zu bedeuten? Sie anrufen wollte ich nicht, denn ich hatte ihr nichts zu sagen, aber ich musste, ihr zuliebe. Auch wenn ich nicht an sie gedacht hatte, so hatte sie doch an mich gedacht, das wusste ich.
    Am Himmel über dem Hafen näherte sich im Gleitflug eine Möwe. Sie nahm direkten Kurs auf die Veranda, und ich merkte, dass ich grinsen musste, denn es war Großmutters Möwe, die kam, um etwas Essbares zu bekommen. Aber weil ich dort saß, wagte sie sich nicht herunter und landete stattdessen auf dem Dach, wo sie auf der Stelle den Kopf in den Nacken warf und ihren Möwenschrei ausstieß.
    Ein bisschen Lachs konnten wir ihr doch geben?
    Ich drückte die Zigarette auf dem Boden

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