Sterben: Roman (German Edition)
das eine oder andere Mal begegnete? Und war es nicht fast schon eine Beleidigung, das Geld woanders hinzulegen, wenn man ihr die Hand hinhielt? Zumindest demonstrativ?
Ich sah sie an.
»Könnte ich bitte eine Tüte bekommen?«
»Natürlich«, antwortete sie, ging ein wenig in die Knie und zog unter dem Tresen eine weiße Plastiktüte hervor.
»Bitte sehr.«
»Danke«, sagte ich, füllte sie mit meinen Einkäufen und ging. Die Lust, mit ihr zu schlafen, die sich eher in einer Art körperlicher Offenheit und Weichheit als in den gängigeren Formen des Begehrens manifestierte, die ja härter, akuter sind, aus einer Art Einengung der Sinne bestehen, hielt auf dem ganzen Weg bis zum Haus an, beherrschte aber nicht alles, da sie beständig von der Trauer mit ihrem grauen und diffusen Himmel umgeben war, die mich, wie ich ahnte, jeden Moment erneut völlig ausfüllen konnte.
Sie saßen im Wohnzimmer und sahen fern. Yngve saß in Vaters Sessel. Als ich hereinkam, drehte er den Kopf und stand auf.
»Wir dachten, wir könnten uns heute Abend einen kleinen Drink genehmigen«, sagte er zu Großmutter. »Immerhin haben wir den ganzen Tag geackert. Möchtest du auch einen?«
»Das wäre nett«, meinte Großmutter.
»Ich mixe dir einen«, sagte Yngve. »Sollen wir uns vielleicht in die Küche setzen?«
»Von mir aus«, sagte Großmutter.
Ging sie etwa eine Spur schneller als vorher? War in ihren sonst so dunklen Augen etwa ein kleines Licht entzündet worden?
Ja, so war es.
Ich legte eine der Chipstüten auf die Arbeitsplatte und schüttete den Inhalt der anderen in eine Schüssel, die ich auf den Tisch stellte, während Yngve eine Flasche Absolut Wodka aus dem Schrank holte, die zwischen den Lebensmitteln gestanden hatte und uns entgangen war, als wir alle alkoholischen Getränke weggegossen hatten, die wir finden konnten, drei Gläser aus dem Regal über der Platte, einen Karton Orangensaft aus dem Kühlschrank nahm, und begann, Drinks zu mixen. Großmutter setzte sich auf ihren Platz und sah ihn an.
»Also gönnt ihr euch abends doch schon mal ein stärkendes Getränk«, sagte sie.
»Aber ja«, erwiderte Yngve. »Immerhin haben wir uns den ganzen Tag ins Zeug gelegt. Wir müssen uns doch auch mal ein bisschen entspannen!«
Er lächelte und reichte ihr ein Glas. Dann saßen wir zu dritt um den Tisch und tranken. Es war fast zehn. Draußen wurde es allmählich dunkel. Der Alkohol tat Großmutter unübersehbar gut. Die Augen bekamen rasch ihren früheren Glanz zurück, es kam Farbe in die blassen, matten Wangen, ihre Bewegungen wurden weicher, und als sie das erste Glas geleert hatte und Yngve ihr ein zweites einschenkte, schien sich auch ihre Stimmung zu bessern, denn schon bald redete und lachte sie wie in alten Zeiten. Die erste halbe Stunde saß ich wie versteinert, vor Unbehagen erstarrt, denn sie war wie ein Vampir, der endlich frisches Blut bekommen hatte, ich sah es, genauso war es: Das Leben kehrte in sie zurück, füllte sie Glied um Glied. Es war furchtbar, furchtbar. Dann aber spürte ich selbst die Wirkung des Alkohols, die Gedanken wurden sanfter, das Bewusstsein offener, und dass sie zwei Tage, nachdem sie ihren Sohn tot im Wohnzimmer gefunden hatte, bei uns saß und trank und lachte, erschien mir nicht länger schauerlich, so schlimm war das doch gar nicht, sie brauchte es offenbar; nachdem sie den ganzen Tag regungslos auf ihrem Stuhl in der Küche gesessen hatte, einzig unterbrochen von ihren rastlosen und verwirrten Streifzügen durchs Haus, dauerhaft verstummt, tat es gut, sie aufleben zu sehen. Und wir, wir brauchten es auch. Und so saßen wir also zusammen, Großmutter erzählte Geschichten, wir lachten, Yngve folgte ihrem Beispiel, wir lachten wieder. Die beiden hatten sich immer schon in ihrem Sinn für Wortspiele gefunden, aber nie mehr als an diesem Abend. Auf einmal lachte sie Tränen und wischte sich diese aus den Augen, auf einmal begegnete ich Yngves Blick, und die Freude, die ich darin sah, der anfangs noch etwas Verschämtes anhaftete, blieb kurze Zeit später alleine zurück. Wir labten uns an einem Zaubertrank. Die glänzende Flüssigkeit, die so scharf schmeckte, obwohl sie mit Orangensaft verdünnt war, veränderte die Bedingungen für unsere Gegenwart dort, indem sie all das, was vor Kurzem geschehen war, aus dem Bewusstsein verdrängte, um so den Weg für die Menschen frei zu machen, die wir sonst waren, für das, was wir sonst dachten, denn was wir waren und was wir dachten,
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