Sterben: Roman (German Edition)
gehörte die Tatsache, dass ich mich gerade damit so intensiv beschäftigte, mit allem, was es in Beziehungen an Zusammenhängen oder Möglichkeiten gab, etwas, was sie selbst nicht gewohnt war, sie dachte nie in diesen Bahnen, und wenn ich sie sehen ließ, was ich sah, war sie immer ausgesprochen interessiert. Das hatte ich von meiner Mutter, schon in meiner Gesamtschulzeit hatte ich mit ihr lange Gespräche über Menschen geführt, denen wir begegnet waren oder die wir kannten, was sie gesagt hatten, warum sie dieses oder jenes möglicherweise gesagt hatten, woher sie kamen, wer ihre Eltern waren, in welcher Art von Häusern sie wohnten, alles eingeflochten in Fragen, die mit Politik, Ethik, Moral, Psychologie und Philosophie zusammenhingen, und diese Gespräche, die heute noch genauso geführt wurden, hatten meinem Blick eine bestimmte Richtung gegeben, ich achtete immer darauf, was zwischen Menschen entstand, und versuchte es zu erklären, und lange Zeit glaubte ich, gut darin zu sein, andere Menschen zu sehen, aber das stimmte nicht, denn wohin ich mich auch wandte, sah ich immer nur mich selbst, aber das war es vielleicht gar nicht, worum es in unseren Gesprächen in erster Linie ging, sondern um Mutter und mich, in der Sprache und der Reflexion kamen wir einander nahe, darin waren wir miteinander verbunden, und darin suchte ich auch eine Verbindung zu Tonje. Und das war gut, denn sie brauchte das, so wie ich ihre robuste Sinnlichkeit brauchte.
»Ich vermisse dich«, sagte ich. »Aber ich bin froh, dass du nicht hier bist.«
»Du musst mir versprechen, mich nicht auszuschließen von dem, was jetzt mit dir geschieht«, sagte sie.
»Das werde ich nicht«, beteuerte ich.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich.
Wie immer, wenn ich diese Worte ausgesprochen hatte, fragte ich mich, ob sie auch wirklich der Wahrheit entsprachen. Dann verflog das Gefühl wieder. Natürlich tat ich das, natürlich liebte ich sie.
»Rufst du mich morgen an?«
»Klar. Mach’s gut.«
»Mach’s gut. Und grüß Yngve.«
Ich legte auf und ging in die Küche, wo Yngve an der Arbeitsplatte lehnte.
»Das war Tonje«, sagte ich. »Ich soll dich grüßen.«
»Danke«, sagte er. »Bestell ihr auch schöne Grüße.«
Ich setzte mich auf den Rand eines Stuhls.
»Sollen wir es für heute Abend gut sein lassen?«
»Ja, ich habe jedenfalls keine Lust mehr, noch was zu tun.«
»Ich will nur kurz zum Kiosk. Dann können wir … ja, du weißt schon. Soll ich dir was mitbringen?«
»Kannst du mir einen Beutel Tabak kaufen? Und vielleicht ein paar Chips oder so?«
Ich nickte und stand auf, ging die Treppe hinunter, zog die Jacke an, die ich an die Garderobe gehängt hatte, überprüfte, ob meine Bankkarte in der Tasche lag, und musterte mich flüchtig im Spiegel, bevor ich hinausging. Ich sah abgekämpft aus. Und obwohl es Stunden her war, dass ich geweint hatte, sah man meinen Augen die Tränen an. Gerötet waren sie nicht, sie wirkten eher etwas verschwommen und wässrig.
Ich blieb für einen Moment auf der Eingangstreppe stehen. Mir wurde bewusst, dass wir Großmutter viele Fragen stellen mussten und bis jetzt zu behutsam vorgegangen waren. Wann war zum Beispiel der Krankenwagen gekommen? Wie schnell? Stand sein Leben noch auf der Kippe, als er eintraf, war es ein solcher Einsatz gewesen?
Diese Einfahrt mussten sie mit Blaulicht und Sirene hochgefahren sein. Fahrer und Arzt waren ausgestiegen, hatten sich die Ausrüstung gegriffen und waren die Treppe zur Tür hochgelaufen, die abgeschlossen war? Diese Tür war immer abgeschlossen, oder war Großmutter geistesgegenwärtig genug gewesen, hinunterzugehen und ihnen aufzuschließen, bevor sie kamen? Oder hatten sie geklingelt? Was hatte sie ihnen gesagt, als sie hereinkamen? Er liegt da drinnen? Um sie anschließend ins Wohnzimmer zu führen? Saß er im Sessel? Lag er auf dem Boden? Hatten sie Wiederbelebungsversuche unternommen? Herzmassage, Sauerstoff, Mund-zu-Mund-Beatmung? Oder hatten sie sofort festgestellt, dass er tot war, außer Reichweite des Lebens, und ihn nur auf die Bahre gelegt und abtransportiert, nachdem sie ein paar Worte mit ihr gewechselt hatten? Wie viel hatte sie verstanden? Was hatte sie gesagt? Und wann war das alles geschehen, am Morgen, mitten am Tag oder am Abend?
Wir konnten erst wieder wegfahren, wenn wir wussten, unter welchen Umständen er gestorben war, oder etwa nicht?
Ich seufzte und ging los. Über mir hatte sich der Raum
Weitere Kostenlose Bücher