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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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schimmerte plötzlich mit Glanz und Wärme, und uns stand nichts mehr im Weg. Großmutter roch weiter nach Urin, ihre Kleider waren nach wie vor voller Fett- und Essensflecken, sie war weiterhin schrecklich mager und hatte in den letzten Monaten mit ihrem Sohn in einem Rattenloch gelebt, unserem Vater, der hier immer noch an seiner Alkoholsucht gestorben und kaum kalt war. Aber ihre Augen, sie leuchteten. Ihr Mund, er lächelte. Und die Hände, die bisher die meiste Zeit regungslos in ihrem Schoß gelegen hatten, wenn sie denn nicht mit den zahlreichen Zigaretten beschäftigt gewesen waren, begannen nun zu gestikulieren. Vor unseren Augen verwandelte sie sich in die Frau, die sie einmal gewesen war, unbeschwert, rege, jederzeit zu einem Lächeln oder Lachen aufgelegt. Ihre Geschichten hatten wir alle früher schon einmal gehört, aber genau das war, jedenfalls für mich, der springende Punkt, denn damit kehrten Großmutter, wie sie gewesen war, und das Leben, wie es hier geführt worden war, zurück. Keine der Anekdoten war für sich genommen amüsant, alles hing von Großmutters Art ab, sie zu erzählen, davon, dass sie zu Geschichten erhoben wurden, die sie selber amüsant fand. Sie hatte schon immer einen Blick für das Komische im Alltag gehabt und musste immer wieder darüber lachen. Ihre Söhne waren genauso, was bedeutete, dass sie ihr fortwährend kleine Geschichten aus ihrem Alltag erzählten, über die sie lachte, und wenn sie so richtig nach ihrem Herzen waren, griff sie die Anekdoten auf und machte sie zu einem Teil ihres Repertoires. Ihre Söhne, vor allem Erling und Gunnar, hatten wie sie selbst einen ausgesprochenen Sinn für Wortspiele. War es nicht Gunnar gewesen, den sie zum Geschäft geschickt hatten, um ein Trollknäuel zu kaufen? Und einen Kurzschluss? Hatten sie Yngve nicht eingeredet, dass »Auspufftopf« und »Vergaser« die schlimmsten Worte waren, die es überhaupt gab, und ihn schwören lassen, sie niemals in den Mund zu nehmen? Vater konnte auch in diesen Jargon einstimmen, aber ich verband ihn niemals damit; wenn er es tat, betrachtete ich ihn eher staunend. Sich einer Erzählung hinzugeben und so über sie zu lachen wie Großmutter, war für ihn undenkbar gewesen.
    Obwohl sie eine Geschichte schon hundert Mal erzählt hatte, kam sie dem Erzählten trotzdem so nahe, dass man den Eindruck gewann, es geschähe zum ersten Mal. Ihr Lachen hinterher war deshalb ungeheuer befreiend: Es hatte absolut nichts Berechnendes. Und als wir einiges getrunken hatten und der Alkohol alles erleuchtete, was es an Düsternis in uns gab, und er darüber hinaus den beobachtenden Blick ausgelöscht hatte, machte es uns keine Mühe, ihr zu folgen. Eine Lachsalve nach der anderen rollte über den Tisch. Großmutter schöpfte aus ihrem reichen, im Laufe ihres fünfundachtzigjährigen Lebens gesammelten Anekdotenschatz, beließ es aber nicht dabei, denn je betrunkener sie wurde, desto schwächer wurden die Verteidigungsmechanismen, bis sie einige der altbekannten Geschichten weiterführte und mehr von dem erzählte, was passiert war, und zwar so, dass sich die Pointe veränderte. So wussten wir zum Beispiel sehr wohl, dass sie Anfang der dreißiger Jahre in Oslo als Privatchauffeurin gearbeitet hatte, denn dies war Teil der Familienmythologie, da es damals nur wenige Frauen gab, die einen Führerschein besaßen oder als Chauffeur arbeiteten. Sie hatte auf eine Annonce geantwortet, erzählte sie, daheim in Åsgårdstrand Aftenposten gelesen und die Stellenanzeige gesehen, einen Brief geschrieben, die Stelle bekommen und war nach Oslo gezogen. Sie arbeitete für eine ältere exzentrische und reiche Dame. Großmutter, Anfang zwanzig, wohnte in einem Zimmer in deren großer Villa und fuhr sie, wohin sie wollte. Die Frau hatte einen Hund, der den Kopf aus dem Fenster zu stecken und alle Passanten anzubellen pflegte, und Großmutter lachte, als sie uns erzählte, wie peinlich ihr das gewesen war. Aber sie erwähnte darüber hinaus stets noch etwas anderes, um zu verdeutlichen, wie exzentrisch und vermutlich auch senil die ältere Dame gewesen war. Sie verwahrte ihr Geld nämlich überall im Haus. Banknotenbündel lagen im Küchenschrank, in Töpfen und Teekannen, unter den Teppichen, unter den Kissen im Schlafzimmer. Großmutter lachte und schüttelte immer den Kopf, wenn sie davon erzählte, denn wir durften nicht vergessen, dass sie gerade erst von zu Hause ausgezogen war und aus einer kleinen Stadt stammte und dies

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