Sterben: Roman (German Edition)
ihre erste Begegnung nicht nur mit der weiten, sondern auch mit der vornehmen weiten Welt war. Diesmal, als wir um den hell erleuchteten Tisch in ihrer Küche zusammensaßen, die Schatten unserer Gesichter auf die dunkler werdenden Fenster fielen und eine Flasche Absolut Wodka zwischen uns stand, fragte sie plötzlich rhetorisch:
»Was sollte ich denn machen? Wisst ihr, sie war doch steinreich. Und das Geld lag wirklich überall herum. Sie merkte nicht, ob etwas davon verschwand. Was spielte es da schon für eine Rolle, wenn ich mir ein bisschen nahm?«
»Du hast das Geld genommen ?«, sagte ich.
»Ja, natürlich habe ich das. Es war nicht viel, für sie war es nichts. Und wenn sie es nicht merkte, spielte es doch auch keine Rolle, oder? Außerdem bezahlte sie mich schlecht! Oh ja, das tat sie, ich bekam einen Hungerlohn. Denn ich fuhr ja nicht nur den Wagen, ich erledigte auch sonst alles Mögliche für sie, so dass es nur recht und billig war, dass ich etwas besser bezahlt wurde!«
Sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Dann lachte sie.
»Aber dieser Hund! Wir waren schon ein Anblick, wenn wir durch Oslo fuhren. Zu der Zeit gab es ja noch nicht viele Autos. Also fielen wir den Leuten auf. Oh ja, das taten wir.«
Sie lachte kurz. Dann seufzte sie.
»Ach ja«, sagte sie. »Das Leben ist ein Gampf, sagte die Alte, denn sie konnte das K nicht sprechen. Hehehe.«
Sie hob das Glas an die Lippen und trank. Ich auch. Griff nach der Flasche und goss etwas in mein leeres Glas, schaute Yngve an, der nickte, goss etwas in seins.
»Möchtest du auch noch was?«, sagte ich und sah Großmutter an.
»Ja, danke«, sagte sie. »Ein Schlückchen nehme ich noch.«
Als ich ihr auch etwas eingeschenkt hatte, wollte Yngve das Glas mit Saft auffüllen, aber es reichte nur noch für ein knappes halbes Glas, und er schüttelte den Karton.
»Er ist leer«, sagte er und sah mich an. »Hast du nicht vorhin Sprite gekauft?«
»Doch«, erwiderte ich. »Ich hole die Flasche.«
Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. Außer meinen drei Halbliterflaschen stand dort auch noch die Eineinhalbliterflasche, die Yngve früher am Tag gekauft hatte.
»Hattest du die vergessen?«, sagte ich und hielt sie hoch.
»Stimmt«, sagte Yngve.
Ich stellte sie auf den Tisch und ging aus dem Zimmer und die Treppe zur Toilette hinunter. Die verdunkelten Räume umgaben mich groß und leer. Da jedoch die Flamme des Alkohols in meinem Gehirn brannte, nahm ich nichts von dem wahr, was sonst möglicherweise Stimmungen geweckt hätte, denn wenn ich auch nicht wirklich froh war, so war ich doch aufgekratzt, aufgeheitert, getrieben von der Lust, mit dem weiterzumachen, was nicht einmal der direkte Gedanke an Vaters Tod ins Wanken bringen konnte, der nur ein bleicher Schatten war, gegenwärtig, aber ohne Konsequenzen, denn an seine Stelle war das Leben getreten, all diese Bilder und Stimmen und Geschehnisse, die der Rausch so schnell aufgescheucht hatte, dass die Illusion erweckt wurde, ich würde mich an einem Ort mit vielen Menschen und großer Freude befinden. Ich wusste, es war nicht so, aber ich empfand es so, und dieses Gefühl lenkte mich auch, als ich den fleckigen Teppichboden im Erdgeschoss betrat, der nur von dem schwachen Licht erhellt wurde, das durch das Glas der Haustür hereinfiel, und die Toilette betrat, in der es so rauschte und säuselte wie seit mindestens dreißig Jahren. Als ich wieder herauskam, hörte ich ihre Stimmen in der oberen Etage und eilte die Treppe hinauf. Im Wohnzimmer machte ich ein, zwei Schritte in den Raum hinein, um in einer anderen, gleichgültigeren Gemütsverfassung den Ort zu sehen, an dem er gestorben war. Daraufhin überkam mich plötzlich ein Gespür dafür, wer er dort gewesen war. Ich sah ihn nicht vor mir, darum ging es nicht, aber ich spürte ihn , sein ganzes Wesen und wie er in der letzten Zeit in diesen Räumen gewesen war. Oh, es war seltsam. Verweilen wollte ich darin jedoch nicht und konnte es vielleicht auch gar nicht, denn dieses Gespür währte nur einen Moment, dann schlugen die Gedanken ihre Krallen hinein, und ich ging in die Küche, wo alles noch so war, wie ich es verlassen hatte, wenn man einmal von der Farbe der Drinks absah, die nun farblos und voller kleiner, grauweißer Bläschen waren.
Großmutter erzählte mehr aus ihrer Zeit in Oslo. Auch diese Geschichte gehörte zur Familienmythologie, und auch dieser gab sie am Ende eine unerwartete und für uns unerhörte Wendung.
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