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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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hoch, dass es vor Blicken geschützt war. Als wir es kauften, stand hier ein anderes Haus. Es ein Haus zu nennen, ist allerdings wirklich übertrieben. Hehehe. Es war eine richtige Bruchbude. Die Leute, die hier wohnten, soweit ich mich erinnere, waren es zwei Männer, ja, das kommt hin … die tranken jedenfalls. Und als wir das erste Mal hier waren, um uns das Haus anzusehen, ich erinnere mich noch gut, da standen überall Flaschen! Im Flur, als wir hineinkamen, auf den Treppen, im Wohnzimmer, in der Küche. Überall! An manchen Stellen standen sie so dicht, dass man nicht treten konnte. Deshalb bekamen wir es ziemlich billig. Das Haus rissen wir ab und bauten anschließend das hier. Einen Garten gab es natürlich auch nicht, nur Felsen, eine Bruchbude auf einem Felsen, das war es, was wir damals kauften.«
    »Hast du viel Arbeit in den Garten gesteckt?«, sagte ich.
    »Oh ja, das kannst du wohl glauben. Oh ja, ja. Wisst ihr, die Pflaumenbäume da draußen, die habe ich von meinem Elternhaus in Åsgårdstrand mitgebracht. Die sind wirklich alt. Die Art sieht man heute kaum noch.«
    »Ich weiß noch, dass wir immer tütenweise Pflaumen mitbekommen haben«, sagte Yngve.
    »Ich auch«, sagte ich.
    »Tragen sie immer noch Früchte?«, erkundigte sich Yngve.
    »Ja, ich denke schon«, sagte Großmutter. »Vielleicht nicht mehr so viele wie früher, aber …«
    Ich griff nach der Flasche, die mittlerweile fast halb leer war, und schenkte mir noch einmal nach. Es war vielleicht gar nicht so seltsam, überlegte ich, wenn es Großmutter nicht auffiel, dass sich angesichts dessen, was hier vorgefallen war, ein Kreis geschlossen hatte. Ich strich einen Tropfen unter der Öffnung fort und leckte ihn auf, während Großmutter auf der anderen Seite des Tischs den Tabakbeutel öffnete und eine Prise in die Drehmaschine legte. Denn unabhängig davon, wie das Leben in den letzten Jahren für sie gewesen war, bildete dies doch nur einen verschwindend kleinen Teil von allem, was sie erlebt hatte. Wenn sie Vater betrachtete, sah sie den Menschen, der er als Säugling, Kind, Jugendlicher, erwachsener Mann gewesen war, sein ganzer Charakter und seine Eigenschaften lagen in diesem Blick, und wenn er dann so voll war, dass er sich in die Hose machte, war der Augenblick dennoch so kurz und sie so alt, dass er gegenüber der überwältigenden Ansammlung von Zeit mit ihm, die sie in sich gespeichert hatte, nicht genügend Gewicht bekam, um zum geltenden Bild werden zu können. Für das Haus galt das Gleiche, vermutete ich. Das erste Haus voller Flaschen wurde zu dem »Haus voller Flaschen«, während dieses Haus ihr Zuhause war, der Ort, an dem sie die letzten vierzig Jahre verbracht hatte, und dass hier überall Flaschen gestanden hatten, würde niemals eine Rolle spielen.
    Oder war sie nur so betrunken, dass sie nicht mehr klar denken konnte? Wenn es so war, überspielte sie es jedenfalls gut, denn abgesehen davon, dass sie so aufgeblüht war, zeigte ihr Verhalten wenige Anzeichen eines Rauschs. Andererseits war ich nicht die richtige Person, um dies einzuschätzen. Angespornt vom stetig heller scheinenden Licht des Alkohols, der meine Gedanken immer mehr auflöste, war ich dazu übergegangen, mir die Drinks fast wie Saft hinter die Binde zu kippen. Und dann gab es kein Halten mehr.
    Nachdem ich das Glas mit Sprite gefüllt hatte, griff ich nach der Wodkaflasche, die mir den Blick auf Großmutter versperrte, und stellte sie auf die Fensterbank.
    »Was tust du denn da!«, sagte Yngve.
    »Stellst du die Flasche ins Fenster?«, sagte Großmutter.
    Rot und verwirrt schnappte ich mir die Flasche und platzierte sie wieder auf dem Tisch.
    Großmutter begann zu lachen.
    »Er hat die Schnapsflasche ins Fenster gestellt!«
    Yngve lachte auch.
    »Ja klar, die Nachbarn sollen ruhig sehen, dass wir hier sitzen und trinken!«, meinte er.
    »Ja, ja«, sagte ich. »Ich habe nicht darüber nachgedacht.«
    »Nein, da hast du wohl Recht!«, meinte Großmutter und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Hehehe!«
    In diesem Haus, in dem man stets darauf bedacht gewesen war, anderen Einblicke zu verwehren, immer sorgsam darauf geachtet hatte, in allem Sichtbaren untadelig zu sein, von der Kleidung bis zum Garten, von der Hausfassade bis zum Auto und dem Benehmen der Kinder, kam man damit, eine Flasche Schnaps ins Fenster zu stellen, in ein hell erleuchtetes Fenster, dem völlig Undenkbaren so nahe, wie es nur ging. Deshalb mussten die beiden, und dann auch

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