Sterben: Roman (German Edition)
schweißnass. Ich senkte den Kopf und bespritzte ihn mit dem Wasser, das aus dem Hahn kam. Zum einen kühlte mich das ab, zum anderen ließ es meine Haare, die zwar kurz waren, aber trotzdem unschön lagen, besser aussehen.
Wasser tropfte mir vom Kinn, und mein Körper war schwer wie Blei, als ich den Flur entlang und auf die Eingangstreppe zuging, wo Yngve mit Großmutter wartete. Er ließ die Autoschlüssel in seiner Hand klirren.
»Hast du einen Kaugummi oder so?«, sagte ich. »Ich bin nicht dazu gekommen, mir die Zähne zu putzen.«
»Heute kannst du es dir wirklich nicht einfach so sparen, dir die Zähne zu putzen«, sagte Yngve. »Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch.«
Er hatte Recht. Ich hatte wahrscheinlich eine Fahne, und so sollte man in einem Beerdigungsinstitut nicht riechen. Mich beeilen konnte ich andererseits auch nicht. Auf der Treppe in die erste Etage musste ich eine Pause einlegen und hing über dem Geländer, auch mein Wille schien erschöpft zu sein. Nachdem ich Zahnbürste und Zahncreme vom Nachttisch geholt hatte, putzte ich mir die Zähne auf die Schnelle am Waschbecken in der Küche. Ich hätte Bürste und Creme einfach liegen lassen und nach unten stürzen sollen, aber irgendetwas in mir sagte, dass dies nicht ging, die Zahncremetube und die Zahnbürste konnten in der Küche nicht liegenbleiben, sie mussten wieder ins Schlafzimmer, wodurch weitere zwei Minuten vergingen. Als ich zum zweiten Mal auf die Treppe vor dem Haus hinaustrat, war es vier Minuten vor neun.
»Dann wollen wir mal«, sagte Yngve und drehte sich zu Großmutter um. »Es dauert nicht lange. Wir sind bald zurück.«
»Das ist schön«, sagte sie.
Ich setzte mich ins Auto, legte den Sicherheitsgurt an. Yngve ließ sich neben mir auf den Sitz fallen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn, schaute über seine Schulter und setzte die kurze Auffahrt abwärts zurück. Großmutter blieb am Kopfende der Treppe stehen. Ich winkte ihr zu, sie winkte zurück. Als wir in die Gasse zurückgesetzt hatten und sie nicht mehr sehen konnten, fragte ich mich, ob sie stehen bleiben würde, wie sie es früher immer getan hatte, denn wenn wir wieder vorwärtsfuhren, gelangten wir erneut in ihr Blickfeld und konnten den Abschied mit einem letzten Winken abschließen, ehe sie sich abwandte und ins Haus ging und wir davonfuhren.
Da stand sie. Ich winkte, sie winkte, und anschließend ging sie hinein.
»Wollte sie heute auch wieder mitkommen?«, sagte ich.
Yngve nickte.
»Wir sollten uns daran halten, was wir ihr gesagt haben, und nicht zu lange wegbleiben. Obwohl ich mir gut vorstellen könnte, mich eine Weile in ein Café zu setzen. Oder in ein paar Plattenläden zu gehen.«
Er drückte den Blinkschalter mit dem linken Zeigefinger herab, schaltete gleichzeitig und schaute nach rechts. Die Straße war frei.
»Wie ist das werte Befinden?«, fragte ich.
»Ganz okay«, sagte Yngve. »Und deins?«
»Etwas mitgenommen«, antwortete ich. »Ehrlich gesagt bin ich immer noch ein bisschen blau.«
Er sah zu mir herüber, als er auf die Straße fuhr.
»Ja, mein Gott«, sagte er.
»Nein, das war keine so gute Idee«, sagte ich.
Er lächelte flüchtig, schaltete wieder herunter, blieb kurz vor der weißen Linie stehen. Ein älterer, weißhaariger, ziemlich klapperdürrer Mann mit einer großen Nase überquerte vor uns den Fußgängerüberweg. Seine Mundwinkel hingen herab. Seine Lippen waren dunkelrot. Er blickte zunächst zu den Hügeln zu meiner Rechten und danach zu der Reihe von Geschäften auf der anderen Straßenseite hinauf, ehe er den Blick wieder auf den Boden richtete, wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, wo sich vor ihm die Bordsteinkante befand. Er tat das alles, als wäre er vollkommen allein. Als schenkte er dem Blick anderer niemals Beachtung. So hatte Giotto die Menschen gemalt. Auch sie schienen sich nie bewusst zu sein, dass sie gesehen wurden. Kein anderer hatte die Aura des Schutzlosen so abgebildet wie er. Wahrscheinlich war es eine Frage der Zeit, denn die nächsten Generationen italienischer Maler, die großen Generationen, hatten das Bewusstsein des Blicks immer in ihre Bilder eingearbeitet. Das machte sie weniger naiv, aber sie offenbarten auch weniger.
Auf der anderen Straßenseite hastete eine junge rothaarige Frau mit einem Kinderwagen dahin. Die Fußgängerampel schaltete auf Rot um, aber sie warf einen Blick zur Verkehrsampel hinauf, die Autos hatten noch Rot, wagte sich auf die Straße
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