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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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’45 abziehen mussten, riefen sie uns an und meinten, wenn wir wollten, könnten wir kommen und uns einige Dinge holen, die sie zurücklassen würden. Die edelsten Tropfen haben sie uns geschenkt. Und ein Radio. Und noch viel mehr.«
    Dass sie von den Deutschen vor der Kapitulation Geschenke bekommen hatten, war mir nicht neu. Aber es hatte immer geheißen, die Deutschen seien zu ihnen gekommen.
    »Sie ließen die Sachen zurück?«, sagte ich. »Wo denn?«
    »Auf einer Geröllhalde irgendwo«, sagte Großmutter. »Sie riefen an und erklärten uns genau, wo wir sie finden konnten. Wir sind dann am Abend hin, und das Ganze lag genau an der Stelle, die sie uns beschrieben hatten. Sie waren freundlich, soviel ist sicher.«
    Waren Großvater und Großmutter an einem Abend im Mai 1945 auf der Suche nach den Getränkevorräten der Deutschen auf einer Geröllhalde herumgeklettert?
    Das Licht von zwei Scheinwerfern huschte durch den Garten und schlug für wenige Sekunden gegen die Wand unter dem Fenster, bis der Wagen aus der Kurve kam und in der Gasse unter uns langsam davonglitt.
    »Wer kann das um diese Uhrzeit sein?«, sagte sie.
    Sie seufzte und lehnte sich, die Hände im Schoß, auf dem Stuhl zurück. Sah uns an.
    »Es ist gut, dass ihr hier seid, Jungs«, sagte sie.
    Es entstand eine Pause. Großmutter trank noch einen Schluck.
    »Weißt du noch, als du hier gewohnt hast?«, sagte sie plötzlich und sah Yngve mit Wärme in den Augen an. »Als euer Vater kam, um dich zu holen, hatte er sich einen Bart stehen lassen, und du bist die Treppen hochgerannt und hast gerufen, ›Das ist nicht Papa!‹. Hehehe! ›Das ist nicht Papa!‹« … Wir hatten so viel Spaß mit dir, das kannst du mir glauben.«
    »Daran erinnere ich mich noch gut«, sagte Yngve.
    »Und einmal hörten wir hier die Nachrichten, und sie sprachen mit dem Besitzer von Norwegens ältestem Pferd. Erinnerst du dich? ›Papa, du bist genauso alt wie Norwegens ältestes Pferd!‹, hast du danach gesagt.«
    Sie senkte den Kopf beim Lachen und rieb sich die Augen mit den Knöcheln der Zeigefinger.
    »Und du«, sagte sie und sah mich an. »Weißt du noch, als du mit uns alleine im Sommerhaus warst?«
    Ich nickte.
    »Eines Morgens fanden wir dich auf der Treppe, du hast geweint, und als wir dich gefragt haben, warum du weinst, hast du gesagt, ›ich bin so einsam‹. Damals warst du acht!«
    Es war der Sommer, in dem meine Eltern in Deutschland Urlaub machten. Yngve hatte die Zeit bei den Großeltern in Sørbøvåg verbracht, und ich war in Kristiansand gewesen. Was war mir davon in Erinnerung geblieben? Dass der Abstand zu Großmutter und Großvater zu groß gewesen war. Plötzlich lief ich nur noch in ihrem Alltag mit. Sie waren mir fremder als sonst, weil es nichts und niemanden gab, der zwischen uns vermitteln konnte. Eines Morgens war in meiner Milch ein Insekt gewesen, und ich wollte sie nicht trinken. Großmutter meinte, ich solle mich nicht so anstellen, man brauche das Tier nur herauszufischen, so sei das nun mal in der Natur. Ihre Stimme war schneidend gewesen. Und ich trank die Milch voller Ekel. Warum war ausgerechnet diese Erinnerung haften geblieben? Und keine andere? Es musste doch auch noch andere geben? Ja: Mutter und Vater schickten mir eine Postkarte mit einem Bild der Mannschaft von Bayern München. Was hatte ich mich danach gesehnt, und wie freute ich mich, als sie endlich ankam! Und die Geschenke, als sie schließlich heimkehrten: ein gelbroter Fußball für Yngve, ein grünroter für mich. Die Farben … Oh, das Glücksgefühl, das sie auslösten …
    »Ein anderes Mal hast du hier auf der Treppe gestanden und nach mir gerufen«, sagte Großmutter und sah Yngve an. »›Großmutter, bist du oben oder unten?‹ Ich antwortete, ›unten‹, und du riefst, ›warum bist du nicht oben?‹.«
    Sie lachte.
    »Ja, wir hatten viel Spaß. Als ihr nach Tybakken gezogen seid, hast du bei den Nachbarn einfach an die Tür geklopft und gefragt, ob dort Kinder wohnten. ›Wohnen hier Kinder?‹, hast du gesagt. Hehehe!«
    Als ihr Lachen erstarb, summte sie ein wenig, während sie sich eine neue Zigarette drehte. Das vorderste Stück der Hülse war leer und flammte auf, als sie die Zigarette mit dem Feuerzeug anzündete. Asche segelte zu Boden. Dann erreichte das Feuer den Tabak und schloss sich zu einer Glut, die mit jedem Zug am Filter stärker leuchtete.
    »Aber jetzt seid ihr erwachsen«, sagte sie. »Und das ist so seltsam. Es kommt mir vor, als wäre

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