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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Daraufhin nahm ich die Beine herunter, wartete, bis er sich umgedreht hatte, und redete danach weiter. In den naturwissenschaftlichen Fächern hatten wir Nygaard, einen kleinen und hageren, regelrecht verschrumpelten Mann mit einem diabolischen Grinsen und kindischen Gesten, der kurz vor der Pensionierung stand. Auch er hatte eine ganze Reihe von Tics, schloss ständig ein Auge, zuckte mit den Schultern und warf den Kopf in den Nacken wie die Parodie eines gequälten Lehrers. Im Sommerhalbjahr trug er einen hellen, im Winterhalbjahr einen dunklen Anzug, und einmal hatte ich ihn den Tafelzirkel als Gewehr benutzen sehen: Wir saßen über eine Arbeit gebeugt, er starrte uns an, klappte den Zirkel zusammen, setzte ihn an die Schulter und bewegte ihn ruckartig schwenkend, begleitet von einem boshaften Grinsen. Ich traute meinen Augen nicht, hatte er den Verstand verloren? In seinen Stunden schwätzte ich auch, und zwar so oft, dass ich mittlerweile unabhängig davon, wer geredet hatte, dafür büßen musste: Knausgård, sagte er, wenn er irgendwo ein Murmeln gehört hatte, und hob die flache Hand: Das hieß, dass ich für den Rest der Stunde neben meinem Pult stehen musste. Das tat ich nur zu gern, denn in mir meldete sich das Verlangen aufzubegehren, ich sehnte mich danach, auf alles zu scheißen, zu schwänzen, zu saufen, Leute herumzukommandieren. Ich war Anarchist, Atheist und wurde täglich antibürgerlicher. Ich schmiedete Pläne, mir Ohrlöcher stechen und den Kopf kahlrasieren zu lassen. Naturwissenschaften, was sollte ich damit? Mathe, was sollte ich damit? Ich wollte in einer Band spielen, frei sein und so leben, wie ich wollte, nicht, wie ich musste.
    Doch bei diesem Plan machte keiner mit, damit stand ich alleine, so dass sich dies vorläufig nicht verwirklichen ließ und noch zur Zukunft gehörte und so gestaltlos war wie alles Zukünftige.
    Keine Hausaufgaben zu machen, in den Stunden nicht aufzupassen, gehörte auch zu dieser Haltung. Ich hatte immer in allen Fächern zu den Besten gehört, und zwar gern, nun jedoch nicht mehr, nun haftete guten Noten etwas nahezu Beschämendes an, weil sie bedeuteten, dass man zu Hause saß, lernte und ein Miesepeter, ein Verlierer war. Norwegisch war etwas anderes, das Fach verband ich mit Schriftstellern und einem Leben als Bohemien, außerdem konnte man dafür nicht lernen, es ging um etwas anderes, um Feeling, Geschick, Persönlichkeit.
    Ich kritzelte mich durch die Stunde, rauchte in der Pause vor der Eingangstür, und in diesem Rhythmus, während der Himmel und die Landschaft darunter sich langsam öffneten, verging der Tag, bis es um halb drei zum letzten Mal klingelte und ich mich auf den Heimweg zu meiner Bude machte. Es war der fünfte Dezember, der Tag vor meinem Geburtstag, ich wurde sechzehn, und meine Mutter würde aus Bergen nach Hause kommen. Darauf freute ich mich. In gewisser Weise war es schön, mit Vater allein zu sein, weil er sich möglichst fernhielt, auf Sannes wohnte, wenn ich in der Stadt war und umgekehrt. Wenn Mutter kam, würde das ein Ende haben, bis ins neue Jahr hinein würden wir dort oben zusammen leben, aber der Nachteil, Vater jeden Tag begegnen zu müssen, wurde von Mutters Gegenwart fast völlig aufgewogen. Mit ihr konnte ich reden. Über alles konnte ich mit ihr reden. Zu meinem Vater konnte ich nichts sagen. Nein, nichts konnte ich zu ihm sagen, nur Dinge, die praktische Belange betrafen, etwa, wo ich hinwollte und wann ich zurückkommen würde.
    Als ich zur Wohnung kam, stand sein Auto vor dem Haus. Ich ging hinein, der ganze Flur hing voller Bratenduft, aus der Küche drangen klappernde Geräusche und die Laute eines Radios.
    Ich steckte den Kopf zur Tür hinein.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Hallo«, erwiderte er. »Hast du Hunger?«
    »Ja, und ob. Was gibt’s denn?«
    »Koteletts. Setz dich, sie sind fertig.«
    Ich trat ein und setzte mich an den runden Esszimmertisch. Er war alt, und ich nahm an, dass er Vaters Großmutter gehört hatte.
    Vater legte zwei Koteletts, drei Kartoffeln und einen kleinen Haufen gebratener Zwiebeln auf meinen Teller. Setzte sich und tat sich selbst auf.
    »Und?«, sagte er. »Was Neues in der Schule?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Du hast heute nichts gelernt?«
    »Nein.«
    »Dann also nicht«, sagte er.
    Wir aßen schweigend weiter.
    Ich wollte ihn nicht verletzen, ich wollte nicht, dass er dachte, die Beziehung zu seinem Sohn sei gescheitert, so dass ich überlegte, was ich sagen könnte. Aber mir

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