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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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auf, und es gab nichts dazu anzumerken, dass ich dort war. Ich saß ganz hinten in der Ecke, neben mir hatte ich Bassen, vor mir saß Molle, ganz vorn in der gleichen Reihe Pål, die restliche Klasse war voller Mädchen. Sechsundzwanzig sechzehn Jahre alte Mädchen. Einige mochte ich lieber als die anderen, aber keine von ihnen so, dass ich hätte behaupten können, in sie verliebt zu sein. Da war Monica, deren Eltern ungarische Juden waren, sie war blitzgescheit, belesen und verteidigte Israel stets standhaft und verbissen, wenn wir über den Nahostkonflikt diskutierten, wofür ich keinerlei Verständnis hatte, denn es lag doch auf der Hand, Israel war ein militaristischer Staat, Palästina ein Opfer. Da war Hanne, ein hübsches Mädchen aus Vågsbygd, das im Chor sang, gläubig und ziemlich naiv war, aber jemand, bei dem man sich schon darüber freute, sie einfach nur anzusehen und im selben Raum zu sein wie sie. Da war Siv, blond, braungebrannt und groß, die an einem der ersten Tage gesagt hatte, die Gegend zwischen der Kathedralschule und der Handelsschule ähnele einem amerikanischen Campus, was sie in meinen Augen zunächst auszeichnete, da sie etwas wusste, was ich nicht wusste, über eine Welt, von der ich gerne ein Teil gewesen wäre. Sie hatte in den letzten Jahren in Ghana gelebt und prahlte zu viel, lachte zu laut. Da war Benedicte, mit markanten, fast schon fünfzigerjahrehaften Gesichtszügen, lockigen Haaren und Kleidern mit einem Anstrich von Oberschicht. Da war Tone, so graziös in ihren Bewegungen, dunkelhaarig und ernst, sie zeichnete und wirkte selbständiger als die anderen. Da war Anne, die eine Klammer trug und mit der ich auf einer Klassenfete im Herbst im Friseurstuhl von Bassens Mutter herumgeknutscht hatte, da war Hilde, mit hellen Haaren und roten Wangen, bestimmt in ihrem Wesen, aber dennoch in gewisser Weise anonym, die sich mir oft zuwandte, da war Irene, die bei den Mädchen im Mittelpunkt stand und auf jene Art schön war, die in einem einzigen Blick entstand und sich wieder auflöste, da war Nina, die so kräftig und männlich gebaut war, gleichzeitig jedoch eine zerbrechliche und verschämte Ausstrahlung hatte. Da war Mette, klein und spitzzüngig und intrigant. Sie mochte Bruce Springsteen und trug immer Jeanskleider, sie war so klein und lachte die ganze Zeit, sie kleidete sich ebenso provokant wie prollig und roch immer nach Rauch, und wenn sie grinste, sah man ihr Zahnfleisch, abgesehen davon war sie hübsch, aber ihr Lachen, eine Art konstantes Kichern, das alles begleitete, was sie sagte, und all die dummen Dinge, die sie zu sagen müssen glaubte, sowie ein leichtes Lispeln setzten ihre Schönheit in gewisser Weise herab oder hoben sie auf. Ich war umgeben von einem ganzen Schwall von Mädchen, einem Strom aus Körpern, einem Meer aus Brüsten und Schenkeln. Dass ich sie ausschließlich in einer formalen Umgebung sah, an ihren Pulten, verstärkte ihre Präsenz sogar noch. In gewisser Weise bekamen meine Tage dadurch einen Sinn, ich freute mich darauf, ins Klassenzimmer zu kommen und zu sitzen, wo ich das Recht hatte zu sitzen, zusammen mit all diesen Mädchen.
    An diesem Morgen ging ich zuerst in die Kantine hinunter, kaufte mir ein Schulbrötchen und eine Cola, setzte mich auf meinen Platz und verzehrte meine Mahlzeit, während ich in einem Buch blätterte und sich das Klassenzimmer allmählich mit Schülern füllte, die sich hereinschoben und deren Gesichtszüge und Bewegungen vom nächtlichen Schlaf noch matt waren. Ich wechselte ein paar Worte mit Molle, der in Hamresanden wohnte, wir waren in der Gesamtschule in dieselbe Klasse gegangen. Dann kam die Lehrerin herein, es war Berg, sie trug ein Flanellhemd, wir hatten Norwegisch. Neben Geschichte war das mein bestes Fach, ich stand zwischen fünf und fünf plus, schaffte den Schritt nach oben nicht, hatte aber beschlossen, dies im Examen nachzuholen. In den naturwissenschaftlichen Fächern war ich am schwächsten, in Mathe lag ich momentan ganz unten bei einer Zwei, ich lernte nicht und hinkte dem Unterrichtsstoff deshalb bereits weit hinterher. Die Lehrer, die uns in Mathe und den Naturwissenschaften unterrichteten, waren noch vom alten Schlag, in Mathe hatten wir Vestby, er hatte jede Menge Tics, sein Arm bog und drehte sich die ganze Zeit. In seinen Stunden legte ich die Beine auf den Tisch und unterhielt mich mit Bassen, bis Vestby, dessen kompaktes, fleischiges Gesicht rot angelaufen war, gellend meinen Namen schrie.

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