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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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E 18, über Varoddbroa, am Gymnasium in Gimle vorbei und in die Stadt.
    Die Wohnung lag am Flussufer. Wenn man das Haus betrat, lag links Großvaters Kanzlei. Rechts die Wohnung. Zwei Zimmer, Küche und ein kleines Bad. Auch die obere Etage war zweigeteilt, auf der einen Seite befand sich ein geräumiger Dachboden, auf der anderen ein Zimmer, das ich bewohnte. Dort hatte ich ein Bett, einen Schreibtisch, eine kleine Couch und einen Couchtisch, einen Kassettenrekorder, ein Kassettenregal, einen Stapel Schulbücher, ein paar Zeitungen und Musikzeitschriften und im Schrank einen Haufen Kleider.
    Es war ein altes Haus, das früher Vaters Großmutter gehört hatte, also meiner Urgroßmutter, die darin gestorben war. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Vater ihr in seiner Jugend nahegestanden und viel Zeit hier unten verbracht. Für mich war sie eine Art mythologisches Wesen, entschlossen, eigenständig, Mutter von drei Söhnen, darunter mein Großvater. Auf den Bildern, die ich von ihr gesehen hatte, trug sie stets schwarze, hochgeschlossene Kleider. Gegen Ende ihres Lebens, das in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann und sich fast über hundert Jahre hinweg erstreckt hatte, war sie senil geworden, oder, wie es in unserer Familie hieß, ein wenig »schusselig«. Mehr wusste ich nicht über sie.
    Ich zog meine Winterschuhe aus, ging die Treppe hinauf, die steil wie eine Leiter war, und in mein Zimmer. Es war kalt, ich schaltete den Heizlüfter ein. Machte den Kassettenrekorder an. Echo and the Bunnymen, Heaven Up Here. Legte mich aufs Bett und begann zu lesen. Bram Stokers Dracula. Ich hatte das Buch ein Jahr zuvor schon einmal gelesen, aber es war wieder genauso intensiv und fantastisch. Die Stadt mit ihrem gleichmäßigen leisen Rauschen von Autos und Gebäuden verschwand aus meinem Bewusstsein, um ab und zu von Neuem darin aufzutauchen, als wäre ich in Bewegung. Aber das war ich nicht, ich lag vollkommen still und las, bis es halb zwölf war und ich mir die Zähne putzte, mich auszog und zu Bett ging.
    Es war ein ganz eigenes Gefühl, dort morgens aufzuwachen, ganz allein in einer Wohnung, es kam mir vor, als umgäbe mich die Leere nicht nur, sondern als wäre sie auch in meinem Inneren. Bevor ich aufs Gymnasium ging, war ich immer in einem Haus aufgewacht, in dem Mutter und Vater bereits aufgestanden und auf dem Weg zur Arbeit waren, mit allem, was an Zigarettenkonsum, Kaffeetrinken, Radio hören, Frühstück und Automotoren, die in der Dunkelheit warm liefen, dazugehörte. Das hier war etwas anderes, und ich liebte es. Den knappen Kilometer durch das alte Stadtviertel zum Gymnasium zu gehen, liebte ich auch, denn der Weg ließ mich immer Dinge denken, die mir gefielen, zum Beispiel, dass ich jemand war. Die meisten auf dem Gymnasium stammten aus der Stadt oder aus stadtnahen Gegenden, nur ich und eine Handvoll anderer kamen vom Land, was ein klarer Nachteil war. Es bedeutete, dass die anderen sich von früher her kannten und nach der Schule trafen, in Cliquen zusammenhingen. Diese Cliquen galten auch während der Schulzeit, und man konnte sich nicht einfach an sie hängen, so dass in jeder freien Minute ein Problem auftauchte: Wo sollte ich mich aufhalten? Wo sollte ich stehen? Ich konnte mich in die Bibliothek setzen und lesen oder im Klassenzimmer sitzen und so tun, als würde ich lernen, aber damit hätte ich signalisiert, dass ich einer von denen war, die nicht dazugehörten, und das ging auf Dauer nicht, und so fing ich im Oktober jenes Jahres an zu rauchen. Nicht weil es mir schmeckte, und auch nicht, weil es cool war, sondern weil es mir einen Ort gab, an dem ich sein konnte: Jede freie Minute hing ich nun zusammen mit den anderen Rauchern vor der Tür herum, ohne dass mir deshalb jemand Fragen gestellt hätte. Wenn die Schule aus war und ich zu meiner Bude zurückging, bestand das Problem nicht mehr. Erstens weil ich dann meistens nach Tveit fuhr, um zu trainieren oder Jan Vidar zu treffen, meinen besten Freund aus der Gesamtschulzeit, zweitens weil mich keiner sah und keiner wissen konnte, dass ich den ganzen Abend alleine in meiner Wohnung hockte.
    Auch in den Schulstunden war es anders. Ich ging in eine Klasse mit drei anderen Jungs und sechsundzwanzig Mädchen, und in der Klasse hatte ich eine Rolle, einen Ort, dort konnte ich reden, Fragen beantworten, diskutieren, Aufgaben lösen, jemand sein. Dort wurde ich mit anderen zusammengeführt, und das galt für alle, ich drängte mich niemandem

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