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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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fiel nichts ein.
    Er war nicht schlecht gelaunt. Er war nicht wütend. Nur geistesabwesend.
    »Bist du in letzter Zeit mal bei Oma und Opa gewesen?«, sagte ich.
    Er sah mich an.
    »Aber ja«, antwortete er. »Ich war gestern Nachmittag auf einen Sprung bei ihnen. Warum fragst du?«
    »Nur so«, sagte ich und spürte, wie meine Wangen leicht rot wurden. »Ich dachte nur.«
    Ich hatte alles Fleisch abgeschnitten, das sich schneiden ließ. Jetzt hob ich den Knochen zum Mund und begann ihn abzunagen. Vater tat das Gleiche. Ich legte den Knochen weg und leerte das Wasserglas.
    »Danke fürs Essen«, sagte ich und stand auf.
    »Wann ist der Elternsprechtag, um sechs?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Bist du hier?«
    »Denke schon.«
    »Dann komme ich hinterher vorbei, hole dich ab und wir fahren nach Sannes. In Ordnung?«
    »Sicher.«
    Als er zurückkam, schrieb ich an einem Aufsatz über eine Reklame für ein Sportgetränk. Die Tür, die geöffnet wurde, das lauter werdende Rauschen der Stadt, das Wummern auf dem Fußboden im Flur. Seine Stimme.
    »Karl Ove? Bist du fertig? Los geht’s.«
    Ich hatte alles, was ich benötigte, in Tasche und Ranzen gepackt, beide waren vollgestopft, denn im nächsten Monat würde ich dort oben wohnen, und ich wusste nicht genau, was ich alles brauchen würde.
    Als ich die Treppe herunterkam, sah er mich an und schüttelte den Kopf. Aber er war nicht wütend. Es war etwas anderes.
    »Wie ist es gewesen?«, fragte ich, ohne ihn anzusehen, obwohl das etwas war, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
    »Wie es gewesen ist? Nun, das will ich dir sagen. Dein Mathelehrer hat mir eine Standpauke gehalten. Das ist passiert. Vestby, so heißt er doch, oder?«
    »Ja.«
    »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich wusste doch nichts. Ich bin völlig überrumpelt worden.«
    »Was hat er denn gesagt?«, fragte ich, zog meine Jacke an und war unglaublich froh, dass Vater nicht die Fassung verlor.
    »Er meinte, du würdest in den Schulstunden die Füße auf den Tisch legen und seist aufmüpfig und frech, dass du quatschst und nicht lernst und keine Hausaufgaben machst. Wenn das so weitergeht, will er dich durchfallen lassen. Das hat er gesagt. Ist das wahr?«
    »Ja, in gewisser Weise schon«, antwortete ich und richtete mich fertig angezogen auf.
    »Weißt du, er hat mir die Schuld gegeben. Er hat mich ausgeschimpft, weil mein Sohn ein solcher Störenfried ist.«
    Ich wand mich.
    »Und was hast du gesagt?«
    »Ich habe ihm eine Standpauke gehalten. Für dein Benehmen in der Schule ist er verantwortlich. Nicht ich. Aber angenehm war es natürlich nicht. Das wirst du verstehen.«
    »Ich verstehe«, erwiderte ich. »Entschuldige.«
    »Das bringt nichts. Das war jedenfalls der letzte Elternsprechtag, zu dem ich gegangen bin, so viel steht fest. So. Wollen wir?«
    Wir traten auf die Straße und gingen zum Auto. Vater setzte sich hinein, beugte sich über den Beifahrersitz und entriegelte auf meiner Seite.
    »Kannst du bitte auch hinten aufmachen?«, sagte ich.
    Er antwortete nicht, tat es aber. Ich legte Tasche und Ranzen in den Kofferraum, schloss ihn vorsichtig, um ihn nicht wütend zu machen, setzte mich auf den Beifahrersitz, zog den Sicherheitsgurt über die Brust, ließ die Steckzunge einrasten.
    »Es war einfach nur peinlich«, sagte Vater und ließ den Motor an. Das Armaturenbrett wurde beleuchtet, genau wie der Wagen vor uns und ein Stück die Böschung zum Fluss hinunter.
    »Wie ist dieser Vestby denn eigentlich als Lehrer?«
    »Ziemlich schlecht. Er hat Probleme mit der Disziplin. Keiner nimmt ihn ernst. Und erklären kann er auch nicht.«
    »Er hat eins der besten Universitätsexamen vorzuweisen, die jemals abgelegt worden sind, wusstest du das?«, sagte Vater.
    »Nein«, antwortete ich.
    Er setzte einen Meter zurück, schwenkte auf die Straße, wendete und fuhr aus der Stadt hinaus. Die Heizung rauschte, die Spikes der Reifen schlugen mit einem gleichmäßigen sirrenden Laut auf den Asphalt. Er fuhr wie üblich schnell. Eine Hand auf dem Lenkrad, eine neben dem Schaltknüppel auf dem Sitz. In meinem Magen kribbelte es, pausenlos schossen kleine Freudenfunken in den Körper, denn das war bisher nie passiert. Er hatte mich noch niemals verteidigt. Er hatte sich niemals entschlossen, Nachsicht walten zu lassen, wenn es an meinem Verhalten etwas zu kritisieren gab. Schon Wochen vorher graute es mir davor, ihm vor den Sommer- und Weihnachtsferien mein Zeugnis zeigen zu müssen. Jede kleine Anmerkung, und

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