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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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darüber, im Alter von fünfzehn, knapp sechzehn Jahren fast zu flennen, war größer als die Schmach, von ihm nachgeäfft zu werden. Normalerweise weinte ich nicht mehr, aber mein Vater hielt mich in einem eisernen Griff, aus dem ich mich nicht befreien konnte. Nur demonstrieren konnte ich dagegen. Ich ging in mein Zimmer, schnappte mir ein paar neue Kassetten und stopfte sie in die Tasche, nahm diese mit in das Zimmer neben dem Flur, in dem die Kleiderschränke standen, legte ein paar Pullover hinein, zog mich im Eingangsflur an, warf mir die Tasche über die Schulter und ging auf den Hof hinaus. Er war verharscht, und das Licht der Laterne über der Garage spiegelte sich in dem glänzenden Schnee, der direkt unter den Lampen ganz gelb war. Die Wiese zur Straße hinunter war ebenfalls lichterfüllt, denn es war ein sternenklarer Abend, und der Mond hing fast voll über den Hügeln am Flussufer gegenüber. Ich ging abwärts. Meine Schritte knirschten in den Reifenspuren. Unten am Briefkastenständer blieb ich stehen. Vielleicht hätte ich ihm doch lieber Bescheid sagen sollen, dass ich mich davonmachte. Andererseits wäre damit der ganze Effekt zunichte gewesen. Immerhin wollte ich ihn dazu bringen, darüber nachzudenken, was er getan hatte.
    Wie viel Uhr war es eigentlich?
    Ich zupfte den linken Handschuh halb ab, zog den Ärmel meiner Jacke ein wenig hoch und sah nach. Zehn nach halb acht. In einer halben Stunde ging der nächste Bus. Ich hatte genügend Zeit, noch einmal hochzulaufen.
    Aber nein. Von wegen.
    Ich warf mir erneut die Tasche über die Schulter und ging weiter bergab. Als ich einen letzten Blick zum Haus hinauf warf, sah ich, dass aus dem Schornstein Rauch aufstieg. Offenbar glaubte er, dass ich noch in meinem Zimmer lag. Anscheinend hatte er es sich also anders überlegt, Holz geholt und den Ofen angefeuert.
    Es knackte im Eis auf dem Fluss. Das Geräusch entfernte sich in Wellen und schob sich die sanft ansteigenden Talhänge hinauf.
    Dann krachte es.
    Mir lief ein Schauer über den Rücken. Dieser Laut erfüllte mich immer mit Freude. Ich blickte zu den Sternen hoch. Zu dem Mond, der über dem Höhenzug hing. Zu den Scheinwerfern der Autos, die große Striemen Licht in die Dunkelheit rissen. Den Bäumen, die schwarz und stumm, aber nicht unfreundlich, das Flussufer säumten. Den zwei hölzernen Fußballtoren auf der weißen Fläche, die der Fluss im Herbst überschwemmte, während sie nun, da er nur wenig Wasser führte, nackt und schimmernd dalag.
    Er hatte Feuer im Kamin gemacht. Damit wollte er sagen, dass es ihm leidtat. Wegzugehen, ohne ihm vorher Bescheid zu sagen, hatte deshalb keinen Sinn mehr.
    Ich machte kehrt und ging wieder hinauf. Betrat das Haus und begann, die Winterschuhe aufzuschnüren. Ich hörte seine Schritte im Wohnzimmer näher kommen und richtete mich auf. Er öffnete die Tür, stand mit der Hand auf der Klinke vor mir und sah mich an.
    »Du willst schon wieder gehen?«, sagte er.
    Dass ich schon gegangen, nun aber zurückgekommen war, konnte ich ihm unmöglich erklären. Also nickte ich bloß.
    »Hatte ich vor«, sagte ich. »Muss morgen früh los.«
    »So, so«, meinte er. »Ich denke, ich schaue morgen Nachmittag mal vorbei. Nur, dass du es weißt.«
    »Okay«, erwiderte ich.
    Er sah mich sekundenlang an. Dann schloss er die Tür und entfernte sich ins Wohnzimmer.
    Ich öffnete sie wieder.
    »Papa?«, sagte ich.
    Er wandte sich um und sah mich wortlos an.
    »Morgen ist Elternsprechtag. Um sechs.«
    »Tatsächlich?«, sagte er. »Tja, dann werde ich wohl hingehen müssen.«
    Er drehte sich wieder um, um weiterzugehen, und ich schloss die Tür, band die Winterschuhe zu, warf mir die Tasche über die Schulter und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle, an der ich zehn Minuten später stehen blieb. Unterhalb lag der Wasserfall, der in großen Bögen und Adern aus Eis gefroren war, schwach erhellt vom Licht der Parkettfabrik. Hinter ihr und hinter mir erhoben sich die Hügel. Sie umgaben die vereinzelte, aber leuchtende Bebauung im Flusstal mit Dunkelheit und Nicht-Menschlichem. Die Sterne über all dem schienen auf dem Grund eines zugefrorenen Meeres zu liegen.
    Der Bus kam mit seinen schweifenden Scheinwerfern, ich zeigte dem Fahrer meine Karte und setzte mich, wie immer, wenn sie frei war, in die vorletzte Bank links. Es war nur wenig Verkehr, wir sausten an Solsletta und Ryensletta vorbei, fuhren am Ufer entlang durch Hamresanden, in den Wald Richtung Timenes, auf die

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