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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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so abgelegen lag, dass ein Taxi in die Stadt oder nach Vennesla, wo Vater arbeitete, zu teuer geworden wäre, hatte jemand bei uns übernachtet. Mein Zimmer war unangetastet geblieben, und ich suchte zusammen, was ich benötigte, und obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, in Sannes zu übernachten, fuhr ich wieder in die Stadt. Alles dort oben in Tveit war mir fremd geworden.
    Als ich ein anderes Mal dorthin kam, hatte ich mich vorher nicht angekündigt, es war Abend und ich hatte keine Lust, nach dem Training in die Stadt zurückzufahren, so dass Tom aus meiner Mannschaft mich nach Hause gefahren hatte. Ich sah Vater im Licht der Küchenlampe sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich eine Flasche Wein. Auch das war neu, er hatte früher nie getrunken, jedenfalls nicht, solange ich lebte, und erst recht nicht allein. Ich sah es und wollte nichts davon wissen, aber zurück konnte ich nicht fahren, so dass ich auf der Türschwelle fest und vernehmlich den Schnee von meinen Schuhen abtrat, die Tür mit einem Ruck öffnete und mit einem Knall zuschlug. Damit er nicht im Unklaren blieb, wo ich hinging, öffnete ich im Bad beide Wasserhähne, während ich auf dem Toilettensitz saß und ein paar Minuten wartete.
    Als ich in die Küche kam, war er weg. Das Glas stand leer auf der Arbeitsplatte, die Flasche stand leer im Spülenunterschrank, Vater war in der Wohnung in der Scheune. Als wäre das alles nicht schon mysteriös genug, sah ich ihn eines frühen Nachmittags an dem Geschäft in Solsletta vorbeifahren. Ich hatte die letzten drei Schulstunden geschwänzt und war vor dem abendlichen Training in der Kjevik-Halle zu Jan Vidar gefahren, saß auf der Bank vor dem Geschäft und rauchte, als sich Vaters rotzgrüner Ascona, der eindeutig erkennbar war, näherte. Ich warf die Zigarette weg, sah ansonsten aber keinen Grund, mich zu verstecken, und starrte den Wagen an, als er an mir vorüberfuhr, und hob sogar die Hand zu einem Gruß. Aber er sah mich nicht, weil neben ihm auf dem Beifahrersitz jemand saß, mit dem er sich unterhielt. Am nächsten Tag schaute er bei mir vorbei, und ich sprach ihn darauf an, und er sagte, es sei eine Kollegin gewesen, sie seien mit einem gemeinsamen Projekt beschäftigt und hätten nach Schulschluss bei uns zu Hause ein paar Stunden gearbeitet.
    Überhaupt hatte er damals viel Kontakt zu seinen Kollegen. Ein Wochenende verbrachte er mit ihnen auf einem Seminar in Hovden, und er ging zu mehr Partys, als er es meiner Erinnerung nach je zuvor getan hatte. Wahrscheinlich weil er sich langweilte oder weil er keine Lust hatte, so viel allein zu sein, und ich freute mich darüber, denn damals hatte ich begonnen, ihn mit anderen Augen zu sehen, nicht mehr mit denen des Kindes, sondern mit denen eines Menschen, der allmählich erwachsen wird, und mit diesem Blick wollte ich, dass er sich mit Freunden und Kollegen traf, wie andere Leute dies auch taten. Gleichzeitig gefiel mir diese Veränderung nicht, denn sie machte ihn unberechenbar.
    Dass er mich auf dem Elternsprechtag tatsächlich verteidigt hatte, passte in dieses Bild. Ja, war vielleicht sogar das deutlichste Zeichen von allen.
    In meinem Zimmer packte ich meine Sachen aus und legte sie in den Schrank, steckte die Kassetten nacheinander in den Ständer auf dem Schreibtisch, legte die Schulbücher auf einen Stapel. Das Haus war Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden, die Fußböden knarrten, und die Geräusche gingen durch alle Wände, weshalb ich nicht nur wusste, dass Vater sich direkt unter mir im Wohnzimmer aufhielt, sondern auch, dass er auf der Couch saß. Ich hatte vorgehabt, Dracula auszulesen, fand aber, dass ich das nicht tun konnte, ohne vorher die Situation zwischen uns zu klären. Will sagen, dass er erfahren sollte, was ich tun würde, und ich erfahren sollte, was er tun würde. Andererseits konnte ich nicht einfach hinuntergehen und ihm sagen: »Hallo, Papa, ich sitze oben und lese.« Warum sagst du mir das, würde er mich fragen oder es zumindest denken. Aber das Ungleichgewicht musste beseitigt werden, und so ging ich die Treppe hinunter und machte einen Abstecher in die Küche, vielleicht etwas mit Essen, ehe ich die letzten Schritte ins Wohnzimmer ging, wo er mit einem meiner alten Comics in der Hand saß.
    »Möchtest du zu Abend essen?«, sagte ich.
    Er blickte kurz auf.
    »Nein, aber nimm dir ruhig was«, erwiderte er.
    »Okay«, sagte ich. »Ich bin dann hinterher in meinem Zimmer.«
    Er antwortete nicht und las

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