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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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er ließ seine Wut an mir aus. Für Elternsprechtage galt das Gleiche. Der kleinste Kommentar darüber, dass ich viel schwätzte oder meine Sachen nicht in Ordnung hielt, ließ ihn hinterher wutentbrannt heimkehren. Ganz zu schweigen von den wenigen Malen, bei denen ich mit einem Brief an die Eltern nach Hause gekommen war. Der Tag des Jüngsten Gerichts. Die Hölle.
    Behandelte er mich so, weil ich allmählich erwachsen wurde?
    Wurden wir allmählich ebenbürtig?
    Ich hatte große Lust, ihn anzusehen, während er auf die Straße starrte, auf der wir dahinrauschten. Aber das ging nicht, dafür hätte ich ihm etwas zu sagen haben müssen, und das hatte ich nicht.
    Eine halbe Stunde später fuhren wir den letzten Hügel hinauf und gelangten auf den Hof vor unserem Haus. Bei laufendem Motor stieg Vater aus, um das Garagentor zu öffnen. Ich ging zur Haustür und schloss sie auf. Dann fiel mir mein Gepäck wieder ein, und ich kehrte um, während Vater den Motor ausschaltete und die roten Rücklichter erloschen.
    »Machst du mir bitte den Kofferraum auf?«, sagte ich.
    Er nickte, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
    Der Deckel hob sich − wie die Fluke eines Wals, schoss es mir durch den Kopf. Als ich ins Haus kam, sah ich sofort, dass er geputzt hatte. Es roch nach Schmierseife, die Zimmer waren aufgeräumt, die Fußböden glänzten. Und der eingetrocknete Katzendreck auf der Couch oben war verschwunden.
    Das hatte er natürlich getan, weil Mutter nach Hause kommen würde. Aber auch wenn es einen konkreten Grund dafür gab und er es folglich nicht aus eigenem Antrieb getan hatte, nur weil es so unglaublich dreckig und ungemütlich gewesen war, reagierte ich erleichtert. Die Ordnung war wiederhergestellt worden. Nicht, dass ich besorgt gewesen wäre, es war vielmehr so, dass es mich verwirrt hatte, vor allem, da dies nicht alles war. Er hatte sich im Laufe des Herbsts verändert. Vermutlich lag es daran, wie wir lebten, dass nur er und ich da waren, und nicht einmal das immer gleichzeitig. Er hatte niemals Freunde gehabt, abgesehen von der Familie nie Besuch bekommen. Seine einzigen Bekannten waren Nachbarn und Kollegen; das heißt, so war es auf Tromøya gewesen, hier kannte er nicht einmal die Nachbarn. Aber nur ein paar Wochen, nachdem Mutter nach Bergen gezogen war, um zu studieren, hatte er einige seiner Kollegen in unser Haus eingeladen, um eine kleine Party zu geben, und er fragte mich, ob ich an dem Abend eventuell in der Stadt bleiben könne? Wenn ich mich alleine fühlte, könne ich ja immer noch zu Großmutter und Großvater gehen, wenn ich wollte. Doch allein zu sein war das Letzte, wovor ich mich fürchtete, und so schaute er am Vormittag vorbei und brachte mir eine Tüte mit einer Tiefkühlpizza, einer Cola und Chips, die ich vor dem Fernseher aß.
    Am nächsten Vormittag nahm ich den Bus zu Jan Vidar, verbrachte ein paar Stunden bei ihm und stieg anschließend erneut in den Bus und fuhr weiter zu unserem Haus. Die Tür war abgeschlossen. Ich öffnete die Garage, um nachzuschauen, ob er nur einen Spaziergang machte oder das Auto genommen hatte. Sie war leer. Ich kehrte zum Haus zurück und schloss auf. Im Wohnzimmer standen ein paar Weinflaschen auf dem Tisch, die Aschenbecher waren voll, aber dafür, dass er noch nicht aufgeräumt hatte, sah es gar nicht so übel aus, und ich überlegte, dass es eine kleine Feier gewesen sein musste. Die Stereoanlage stand normalerweise in der Scheune, aber nun hatte er sie auf einem Tischchen neben dem Ofen platziert, und ich ging vor dem kleinen Haufen Platten auf die Knie, die teils in einem Stapel an einem Stuhlbein lehnten, teils auf dem Fußboden verstreut lagen. Es waren die Platten, die er gehört hatte, solange ich denken konnte. Pink Floyd, Joe Dassin. Arja Saijonmaa. Johnny Cash. Elvis Presley, Bach. Vivaldi. Letztere hatte er sicher vor der Party aufgelegt oder vielleicht auch an diesem Morgen. Die übrige Musik war allerdings auch nicht sonderlich fetentauglich. Ich stand auf und ging in die Küche, wo ein paar Teller und Gläser ungespült im Becken standen, öffnete den Kühlschrank, der bis auf zwei Flaschen Weißwein und einige Flaschen Bier so gut wie leer war, und stieg die Treppe in die obere Etage hinauf. Die Tür zu Vaters Schlafzimmer stand offen. Ich schaute hinein. Das Bett aus Mutters Schlafzimmer war hereingetragen worden und stand neben Vaters mitten im Zimmer. Es war also spät geworden, und da sie getrunken hatten und das Haus

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