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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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freuen, als sie herunterkam, um mich ins Haus zu lassen. Ich begrüßte ihre Eltern, und wir gingen in ihr Zimmer, setzten uns und überlegten eine Weile ergebnislos, was wir tun sollten, unterhielten uns ein bisschen über die Schule und die Lehrer, ehe ich, ganz nebenbei, mein Anliegen vorbrachte. Hatte sie eventuell ein Foto von Inger, das ich bekommen konnte?
    Sie erstarrte auf ihrem Bett sitzend und blickte mich verständnislos an.
    »Von Inger?«, sagte sie schließlich. »Was willst du damit?«
    Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es ein Problem geben könnte. Ich war doch mit Susanne zusammen, und wenn ich ausgerechnet sie nach einem Foto fragte, konnte dies doch nur so interpretiert werden, dass ich ehrliche Absichten verfolgte.
    »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte ich.
    Das war die Wahrheit, denn wenn ich ihr erzählte, dass ich einem Freund auf Tromøya Bilder von den acht hübschesten Mädchen in Tveit schicken wollte, würde sie erwarten, dass sie selbst dazugehörte. Das tat sie aber nicht, und das konnte ich ihr nicht sagen.
    »Du bekommst erst ein Foto von Inger, wenn du mir sagst, was du damit willst«, sagte sie.
    »Aber das geht nicht«, erwiderte ich. »Kannst du mir nicht einfach ein Bild von ihr geben? Es ist nicht für mich, falls du das denken solltest.«
    »Für wen ist es dann?«
    »Das kann ich dir nicht sagen.«
    Sie stand auf. Ich begriff, dass sie außer sich war. Ihre Bewegungen waren kurz, irgendwie abgehackt, als gönnte sie mir nicht mehr die Freude, sie frei entfaltet zu sehen und so an ihrem freundlichen Überfluss teilzuhaben.
    »Du bist in Inger verliebt, stimmt’s?«, sagte sie.
    Ich antwortete nicht.
    »Karl Ove. Stimmt das? Das habe ich von vielen gehört.«
    »Wir vergessen das Bild«, sagte ich. »Vergiss es.«
    »Dann bist du in sie verliebt?«
    »Nein«, antwortete ich. »Kann sein, dass ich in sie verliebt war, als ich hergekommen bin, ganz zu Anfang, aber jetzt nicht mehr.«
    »Und was willst du dann mit dem Foto?«
    »Das kann ich dir nicht sagen.«
    Sie fing an zu weinen.
    »Du bist es«, sagte sie. »Du bist in Inger verliebt. Ich weiß es. Ich weiß es.«
    Wenn Susanne es wusste, schoss mir plötzlich durch den Kopf, musste Inger es dann nicht auch wissen?
    In mir wurde eine Art Licht entfacht. Wenn sie es wusste, brauchte ein Annäherungsversuch nicht mehr so kompliziert zu sein. Auf einer Schulfete würde ich beispielsweise zu ihr gehen und sie zum Tanzen auffordern können, und sie würde wissen, worum es ging und dass sie nicht nur eine unter vielen war. Interessierte sie sich vielleicht sogar für mich?
    Susanne ging schluchzend zu dem Sekretär am anderen Ende des Zimmers und zog eine Schublade auf.
    »Hier hast du dein Bild«, sagte sie. »Nimm es. Ich will dich hier nie wieder sehen.«
    Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht und reichte mir mit der anderen das Foto von Inger. Ihre Schultern zitterten.
    »Es ist nicht für mich«, sagte ich. »Ich schwöre es. Ich will es nicht behalten.«
    »Du verdammtes Dreckschwein«, sagte sie. »Geh!«
    Ich nahm das Foto.
    »Dann sind wir jetzt nicht mehr zusammen?«, sagte ich.
    An jenem stürmischen und eisig kalten Silvestertag, an dem ich lesend auf dem Bett lag, während ich darauf wartete, dass die abendlichen Festlichkeiten beginnen würden, waren seither zwei Jahre vergangen. Susanne hatte nur wenige Monate später einen neuen Freund. Er hieß Terje, war klein, ein wenig dicklich, hatte eine Dauerwelle und einen idiotischen Schnäuzer. Dass sie jemanden wie ihn meinen Platz einnehmen lassen konnte, war mir unverständlich. Sicher, er war achtzehn, und sicher, er hatte ein Auto, in dem sie abends und an den Wochenenden durch die Gegend fuhren, aber trotzdem: ihn lieber als mich? Einen kleinen Dicken mit einem Schnäuzer? Dann konnte Susanne mir gestohlen bleiben. So hatte ich gedacht, und so dachte ich immer noch. Aber jetzt war ich kein Kind mehr, sondern sechzehn Jahre alt, jetzt ging ich nicht mehr auf die Gesamtschule in Ve, sondern auf die Kathedralschule in Kristiansand.
    Draußen erklang das schneidende, rostige Geräusch des Garagentors, das geöffnet wurde. Der Knall, als es an seinen Platz schlug, das Auto, das unmittelbar darauf ansprang und kurze Zeit im Leerlauf lief. Ich stellte mich ans Fenster und blieb dort stehen, bis ich die zwei roten Rücklichter in der Kurve verschwinden sah. Dann ging ich in die Küche hinunter und setzte Wasser in einem Kessel auf, holte ein bisschen

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