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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sie an, nicht musternd oder forschend, darum ging es nicht, nein, der eine oder andere flüchtige Blick genügte. Wenn ich sie sah, war immer auch die Hoffnung da.
    Mitten in diesem Seelensturm wurde es Frühling.
    Es gibt nur wenige Dinge, die man sich schwerer vorstellen kann, als dass eine kalte und verschneite Landschaft, bis ins Mark leblos und still, nur wenige Monate später grün und fruchtbar und warm sein wird, von allerlei Leben vibrierend, von Vögeln, die von Baum zu Baum fliegen und singen, bis hin zu Insektenschwärmen, die an manchen Stellen in Trauben in der Luft hängen. Nichts in der Winterlandschaft kündigt den Geruch sonnenwarmen Heidekrauts und Mooses und saftstrotzender Bäume und offenen Wassers an, nichts deutet jenes Freiheitsgefühl an, das einen zuweilen überkommt, wenn das einzige Weiß die Wolken sind, die am blauen Himmel und über dem blauen Flusswasser ziehen, das bedächtig zum Meer fließt mit seiner durch und durch kühlen, glänzenden Oberfläche, die gelegentlich von Steinen, Stromschnellen, badenden Körpern durchbrochen wird. Es ist nicht da, es existiert nicht, alles ist weiß und still, und wird diese Stille einmal durchbrochen, dann von einem eisigen Wind oder dem Krächzen einer einsamen Krähe. Aber es kommt … es kommt … Eines Abends im März geht der Schneefall in Regen über, und die Schneewälle sacken in sich zusammen. An einem Vormittag im April zeigen sich Knospen an den Bäumen, und im Gras sieht man einen Hauch von Grün im Gelb. Osterglocken, Buschwindröschen und Leberblümchen tauchen auf. Dann steht die warme Luft plötzlich wie eine Säule zwischen den Bäumen an den Hängen. In sonnigen Lagen knospen die Blätter, hier und da blühen zwischen ihnen Kirschbäume. Ist man sechzehn, beeinflusst einen das alles, hinterlässt es Spuren, denn es ist der erste Frühling, in dem man weiß, dass es Frühling ist, mit allen Sinnen weiß, dass es Frühling ist, und es ist der letzte, denn im Vergleich zum ersten Frühling verblassen alle nachfolgenden. Ist man noch dazu verliebt, tja, dann … dann geht es nur noch darum, dies auszuhalten. All die Freude, Schönheit, Zukunft auszuhalten, die in allen Dingen liegt. Ich war auf dem Heimweg von der Schule, ich sah einen Schneewall, der auf dem Asphalt geschmolzen war, es kam mir vor, als würde mir mit einer Ahle ins Herz gestochen. Ich sah einige Kisten Obst unter einer Markise vor einem Geschäft, in der Nähe hüpfte eine Krähe davon, ich hob den Kopf zum Himmel, es war so schön. Ich ging durch die Siedlung, ein Regenschauer fiel, mir standen Tränen in den Augen. Gleichzeitig tat ich, was ich immer getan hatte, ging in die Schule, spielte Fußball, hing mit Jan Vidar herum, las Bücher, hörte Platten, begegnete mitunter Vater – zweimal rein zufällig, wie damals, als ich ihn im Supermarkt traf und es ihm fast peinlich zu sein schien, gesehen zu werden, vielleicht reagierte er aber auch nur darauf, wie seltsam die Situation war, dass jeder von uns einen eigenen Einkaufswagen vor sich herschob, ohne vom anderen zu wissen, um hinterher verschiedene Wege zu gehen, oder wie an dem Vormittag, als ich auf dem Weg zum Haus war und er mir mit seiner Kollegin auf dem Beifahrersitz entgegenkam, die, wie ich nun sah, ganz grauhaarig, aber dennoch jung war, aber meistens, nachdem wir es ausgemacht hatten, sei es, dass er in der Wohnung vorbeischaute und wir bei Großmutter und Großvater aßen, oder in unserem Haus, wo er mir ansonsten möglichst aus dem Weg zu gehen versuchte. Er schien seinen Griff um mich gelöst zu haben, aber nicht völlig, er konnte immer noch zuschlagen wie an dem Tag, als ich mir Löcher in beide Ohrläppchen hatte stechen lassen, woraufhin er, als wir uns zufällig im Flur begegneten, erklärte, ich sähe aus wie ein Idiot, er könne nicht verstehen, dass ich aussehen wolle wie ein Idiot, er schäme sich, mein Vater zu sein.
    An einem frühen Nachmittag im März hörte ich ein Auto vor der Wohnung parken. Ich ging hinunter und sah aus dem Fenster, es war Vater, er hatte eine Tasche in der Hand und wirkte gut gelaunt. Ich hastete in mein Zimmer zurück, wollte mir nicht neugierig die Nase am Fenster plattdrücken. Hörte ihn unten in der Küche räumen, legte eine Kassette von The Doors ein, die Jan Vidar mir geliehen hatte und die ich hören wollte, nachdem ich Yesterday von Lars Saabye Christensen gelesen hatte. Griff nach einem Stapel mit Zeitungsausschnitten über den Spionagefall Treholt,

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