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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sich gekehrt zu sein.
    Was war da passiert? Hanne, heiter, schön, verspielt, fröhlich und immer mit einer neugierigen, oft auch naiven Frage auf den Lippen, in was hatte sie sich verwandelt? Was hatte ich gesehen? Das Dunkle, Tiefe, möglicherweise auch Gewaltsame, trug sie das in sich? Sie war darauf eingegangen, zwar nur kurz, aber trotzdem. Da, in dem Moment, war ich niemand gewesen. Ich war ausradiert worden. Ich mit all den Zetteln, die ich ihr schrieb, und den ganzen Diskussionen, mit all meinen simplen Hoffnungen und kindischen Gelüsten, ich war niemand, ein Ruf auf einem Schulhof, ein Körnchen in einer Uhr, das Hupen eines Autos.
    Konnte ich das bei ihr bewirken? Konnte ich sie dorthin bringen?
    Konnte ich irgendwen dorthin bringen?
    Nein.
    Für Hanne war und blieb ich niemand.
    Für mich war sie alles.
    Ich versuchte, auch ihr gegenüber, zu bagatellisieren, was ich gesehen hatte, indem ich weitermachte wie zuvor und auf die Art tat, als wäre es gut genug. Aber das war es nicht, das wusste ich, da war ich mir vollkommen sicher. Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass sie es vielleicht nicht wusste. Aber in welcher Welt lebte ich eigentlich? An welche Art von Träumen glaubte ich eigentlich?
    Zwei Tage später, als die Osterferien anfingen, kam Mutter nach Hause.
    Vater hatte das mit der Scheidung verkündet, als wäre es entschieden und stünde endgültig fest. Als Mutter heimkam, erkannte ich, dass sie das anders sah. Sie fuhr sofort zu unserem Haus, wo Vater sie erwartete, und dort blieben die beiden zwei Tage, während ich durch die Stadt lief und die Zeit totzuschlagen versuchte.
    Am Freitag parkte sie ihr Auto vor dem Haus. Ich sah sie durch das Fenster. Sie hatte ein dickes Veilchen an einem Auge. Ich öffnete die Tür.
    »Was ist passiert?«, sagte ich.
    »Ich weiß, was du denkst«, antwortete sie. »Aber so ist es nicht gewesen. Ich bin hingefallen. Weißt du, ich bin ohnmächtig geworden, das passiert mir ab und zu, und dann ausgerechnet auf die Tischkante gefallen. Du weißt schon, von dem Glastisch.«
    »Ich glaube dir kein Wort«, sagte ich.
    »Es ist aber die Wahrheit«, sagte sie. »Ich bin ohnmächtig geworden. Mehr ist nicht passiert.«
    Ich wich einen Schritt zurück. Sie trat in den Flur.
    »Seid ihr jetzt geschieden?«, sagte ich.
    Sie setzte ihren Koffer ab, hängte den hellen Mantel an den Haken.
    »Ja, das sind wir«, antwortete sie.
    »Bist du unglücklich?«
    »Unglücklich?«
    Sie sah mich fragend an, als wäre ihr diese Möglichkeit nie in den Sinn gekommen.
    »Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Eher traurig, vielleicht. Und du? Wie findest du es?«
    »Gut«, sagte ich. »Hauptsache, ich muss nicht bei Papa wohnen.«
    »Darüber haben wir auch gesprochen. Aber jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee.«
    Ich folgte ihr in die Küche, sah zu, während sie den Kaffeekessel mit Wasser füllte, sich mit der Tasche im Arm auf einen Stuhl setzte, die Zigarettenschachtel herauszog − in Bergen hatte sie offenbar begonnen, Barclay zu rauchen −, eine herauszupfte und sich ansteckte.
    Sie sah mich an.
    »Ich ziehe in unser Haus. Wir werden dort wohnen. Papa wohnt dann hier. Ich muss ihm wahrscheinlich seinen Anteil abkaufen, und ich habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll, aber es wird sich schon eine Lösung finden.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Und du?«, fragte sie. »Wie geht es dir? Weißt du was, es ist wirklich schön, dich zu sehen.«
    »Geht mir genauso«, sagte ich. »Immerhin habe ich dich seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Und es ist wirklich unglaublich viel passiert.«
    »Tatsächlich?«
    Sie stand auf, holte einen Aschenbecher aus dem Schrank, zog bei der Gelegenheit die Tüte mit Kaffeepulver heraus und stellte sie auf die Arbeitsplatte, während das Wasser anfing, leise zu rauschen, ähnlich einem Meer, dem man sich nähert.
    »Ja«, sagte ich.
    »Anscheinend was Gutes?«, sagte sie und lächelte.
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin verliebt. Das ist alles.«
    »Wie schön. Ist es jemand, den ich kenne?«
    »Wie sollte es jemand sein, den du kennst? Nein, es ist ein Mädchen aus meiner Klasse. Das ist vielleicht ein bisschen dumm, aber so ist es nun einmal. So was lässt sich ja nicht planen.«
    »Nein«, sagte sie. »Und wie heißt sie?«
    »Hanne.«
    »Hanne«, sagte Mutter und sah mich kurz lächelnd an. »Und wann darf ich sie sehen?«
    »Das ist das Problem. Wir sind nicht zusammen. Sie ist mit einem anderen zusammen.«
    »Das ist sicher nicht leicht für

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