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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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zweite Frau wühlte in einer Tasche auf ihrem Schoß. Sie schaute zu mir hoch und legte gleichzeitig eine ungeöffnete Schachtel Zigaretten auf den Tisch.
    »Hallo«, sagte ich. »Ich wollte mir nur ein Bier holen.«
    An der Wand neben der Tür standen zwei volle Kästen. Ich hob eine Flasche aus dem obersten.
    »Hat einer von euch einen Öffner?«, sagte ich.
    Der Mann richtete sich auf und klopfte sich auf den Schenkel.
    »Ich hab ein Feuerzeug«, sagte er. »Hier.«
    Er führte die Hand in einem Schlenker nach innen, erst langsam, damit ich mich darauf vorbereiten konnte, was geschehen würde, aber dann schoss das Feuerzeug mit einem Ruck durch die Luft. Es traf den Türrahmen und fiel klappernd auf den Fußboden. Wenn das nicht passiert wäre, hätte mich die Situation schlicht überfordert, denn die patriarchalische Geste, ihn die Flasche für mich öffnen zu lassen, hätte ich mir selbst nicht zumuten wollen, so aber hatte er die Initiative zu etwas ergriffen, das ihm missglückt war, wodurch die ganze Sache auf den Kopf gestellt wurde.
    »Ich kann keine Flaschen mit dem Feuerzeug öffnen«, sagte ich. »Kannst du sie mir vielleicht aufmachen?«
    Ich hob das Feuerzeug auf und reichte es ihm zusammen mit der Flasche. Er trug eine Brille mit runden Gläsern, und dass sein halber Schädel kahl war, während die Haare ansonsten hochstanden wie eine Welle auf einem endlosen Strand, den sie niemals bezwingen würde, ließ ihn irgendwie verzweifelt aussehen. Jedenfalls war das mein Eindruck. Die Oberseiten seiner Finger, die sich nun um das Feuerzeug strafften, waren behaart. Um sein Handgelenk hing eine Uhr an einem Silberarmband.
    Der Kronkorken löste sich mit einem kurzen Ploppen.
    »Bitte«, sagte er und reichte mir die Flasche. Ich dankte ihm und ging ins Wohnzimmer, wo vier, fünf Leute tanzten, und durch die Tür dort in den Garten hinaus. An der Fahnenstange stand eine kleine Gruppe zusammen, sie hielten Gläser in den Händen, unterhielten sich und blickten dabei auf das Flusstal hinunter.
    Das Bier schmeckte fantastisch. In Dänemark hatte ich genau wie in der letzten Nacht jeden Abend getrunken, so dass viel Bier erforderlich sein würde, um mich jetzt betrunken zu machen. Aber ich wollte mich auch gar nicht betrinken. Als Betrunkener würde ich in ihre Welt hineingleiten, mich von ihr vereinnahmen lassen und keinen Unterschied mehr wahrnehmen, vielleicht sogar Lust auf die Frauen in ihr bekommen. Das war das Letzte, was ich wollte.
    Ich schaute in die Ferne. Auf den Fluss, der in einer langgezogenen Biegung die grasbewachsene Landzunge umschloss, auf der die Fußballtore standen, und zwischen die großen Laubbäume, die das Ufer säumten und nun vor dem schimmernden Dunkelgrau der Wasseroberfläche vollkommen schwarz waren. Die Höhenzüge, die sich am anderen Ufer erhoben und von dort aus bis zum Meer wogten, waren ebenfalls vollkommen schwarz. Die Lichter der Häuseransammlungen, die zwischen Fluss und Höhenzug lagen, leuchteten deshalb hell und klar, während die Sterne am Himmel, gräulich unten über der Landschaft, bläulich weiter oben, kaum zu sehen waren.
    Die Leute bei der Fahnenstange lachten über etwas. Sie standen nur ein, zwei Meter von mir entfernt, aber ihre Gesichtszüge blieben dennoch verschwommen. Der Mann mit dem Schmerbauch kam um die Hausecke, er schien zu gleiten. Mein Konfirmationsbild war genau dort gemacht worden, vor der Fahnenstange, zwischen Mutter und Vater. Ich trank noch einen Schluck und ging zum anderen Ende des Gartens, wohin sonst niemand den Weg gefunden zu haben schien. Dort, an der Birke, setzte ich mich in den Schneidersitz. Die Musik war genau wie die Stimmen und das Lachen ferner, und die Bewegungen waren noch undeutlicher. Wie Gespenster glitten sie durch die Dunkelheit um das leuchtende Haus. Ich dachte an Hanne. Es kam mir vor, als hätte sie einen Platz in mir, als gäbe es sie als einen realen Ort, an dem ich immer sein wollte. Dass ich ihn besuchen konnte, wenn ich wollte, empfand ich als Gnade. Auf der Klassenfete in der vorherigen Nacht hatten wir auf den Uferfelsen gesessen und geredet. Sonst war nichts passiert, das war alles gewesen. Die Felsplatten, Hanne, der Sund mit den flachen Felseneilanden, das Meer. Wir hatten getanzt, Spiele gespielt, waren die Treppe am Steg hinuntergestiegen und in der Dunkelheit schwimmen gegangen. Es war fantastisch gewesen. Und das Fantastische war unverwüstlich, es hatte den ganzen Tag in mir gelebt und begleitete

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