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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sich geweigert. Möglicherweise der Grund für den Bruch?
    Ich verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Als ich in den Flur kam, stand Vater in dem Zimmer mit den Kleiderschränken, in dem kein Licht brannte, und sah mich an.
    »Hier bist du?«, sagte er. »Willst du dich nicht zu uns setzen?«
    »Doch«, antwortete ich. »Natürlich. Ich bin nur ein bisschen herumgelaufen und habe mich umgesehen.«
    »Es ist eine schöne Party«, sagte er.
    Er neigte ein wenig den Kopf und presste seine Haare in Form. Es war eine seiner typischen Gesten, aber irgendetwas an dieser Jacke und der Hose ließ sie plötzlich weiblich wirken.
    »Ist bei dir alles in Ordnung, Karl Ove?«, sagte er.
    »Ja, klar«, erwiderte ich. »Alles in Ordnung. Ich komme raus und setze mich dazu.«
    Als ich ins Freie trat, strich ein Windstoß durch die Luft. Die Blätter der Bäume am Waldsaum bewegten sich schwach, fast unwillig, wie aus tiefem Schlaf geweckt.
    Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass er betrunken ist, überlegte ich. Denn auch daran war ich nicht gewöhnt. Mein Vater hatte nie getrunken. Zum ersten Mal betrunken hatte ich ihn an einem Abend gesehen, der erst zwei Monate zurücklag, als ich ihn und Unni in der Wohnung in der Elvegaten besucht hatte, und es Fondue gab. Früher wäre es ihm niemals in den Sinn gekommen, etwas Derartiges zu Hause, an einem Freitagabend, zu sich zu nehmen. Sie hatten schon getrunken, bevor ich kam, und obwohl er die Liebenswürdigkeit selbst war, wirkte es dennoch bedrohlich; natürlich nicht direkt, ich saß dort nicht voller Angst, sondern indirekt, weil ich ihn nicht mehr lesen konnte. Alles Wissen, das ich mir im Laufe meiner Kindheit über ihn angeeignet hatte und das mir oft geholfen hatte, vorherzusehen, was geschehen würde, schien auf einen Schlag seine Gültigkeit verloren zu haben. Und was galt dann?
    Als ich mich umdrehte und zum Tisch weiterging, begegnete ich Unnis Blick, sie lächelte, und ich erwiderte ihr Lächeln. Ein neuer, kräftigerer Windstoß strich vorbei. Die Blätter in den mannshohen Sträuchern vor der Treppe zur Scheune raschelten. Die leichtesten Zweige in den Bäumen über dem Tisch wippten auf und ab.
    »Geht es dir gut?«, sagte Unni, als ich bei ihnen war.
    »Ja, klar«, antwortete ich. »Ich bin nur ein bisschen müde, ich denke, ich gehe bald ins Bett.«
    »Meinst du, du kannst bei dem Krach schlafen?«
    »Das ist doch kein Krach!«
    »Du glaubst gar nicht, wie herzlich dein Vater heute Abend über dich gesprochen hat«, sagte Bodil und lehnte sich über den Tisch. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also lächelte ich vorsichtig.
    »Habe ich Recht, Unni?«
    Unni nickte. Sie hatte lange, graue Haare, war aber erst Anfang dreißig. Vater hatte sie während ihres Referendariats betreut. Sie trug eine weite grüne Hose und so ein jackenartiges Ding wie er. Um ihren Hals hing eine Art Holzperlenkette.
    »Im Frühjahr haben wir einen deiner Schulaufsätze gelesen«, sagte sie. »Wusstest du das? Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihn gelesen habe? Verstehst du, er war so stolz auf dich.«
    Oh, das war jetzt aber wirklich das Letzte. Was zum Teufel gingen sie meine Aufsätze an?
    Andererseits fühlte ich mich natürlich auch geschmeichelt.
    »Du ähnelst deinem Großvater, Karl Ove«, sagte Bodil.
    »Großvater?«
    »Ja, die gleiche Kopfform. Der gleiche Mund.«
    »Und du bist eine Cousine von Papa?«, sagte ich.
    »Ja«, erwiderte sie. »Du musst uns mal besuchen kommen. Wir wohnen nämlich auch in Kristiansand!«
    Das wusste ich nicht. Vor diesem Abend hatte ich nicht einmal gewusst, dass es sie gab. Das hätte ich ihr sagen sollen, tat es aber nicht. Stattdessen meinte ich, dass dies nett wäre, und erkundigte mich nach ihrem Beruf und ob sie Kinder hatte. Darüber sprach sie dann, als Vater zurückkam. Er setzte sich und sah sie aufmerksam an, als wollte er sich in das Gesprächsthema vertiefen, lehnte sich unmittelbar darauf jedoch zurück, einen Fuß aufs Knie gelegt, und zündete sich eine Zigarette an.
    Ich stand auf.
    »Wenn ich komme, gehst du?«, sagte er.
    »Ach was. Ich will mir nur was holen«, erwiderte ich. Öffnete den Seesack an der Haustür, holte meine Zigaretten heraus, steckte mir auf dem Rückweg eine in den Mund und blieb kurz stehen, um sie anzuzünden, damit ich bereits rauchte, wenn ich mich wieder setzte. Vater sagte nichts. Ich sah, dass ihm etwas auf der Zunge lag, denn um seinen Mund spielte ein missbilligender

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