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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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mich noch immer. Ich war unsterblich. Ich richtete mich auf, war mir meiner eigenen Stärke in jeder Körperzelle bewusst. Ich trug ein graues T-Shirt, eine wadenlange, militärgrüne Hose und weiße Adidas-Basketballschuhe, das war alles, aber es war genug. Kräftig war ich nicht, aber ich war schlank, geschmeidig und schön wie ein Gott.
    Konnte ich sie anrufen?
    Heute Abend würde sie bestimmt zu Hause sein.
    Aber es war sicher schon fast zwölf. Auch wenn sie selbst nichts dagegen einzuwenden hätte, geweckt zu werden, würde der Rest der Familie das sicher ein wenig anders sehen.
    Und wenn das Haus abgebrannt war? Wenn jemand verbrannt war?
    Oh verdammt, verdammt.
    Ich ging über den Hof und versuchte währenddessen den Gedanken zu verdrängen, ließ den Blick über die Hecke, über das Haus, über das Dach bis zu den großen Fliedersträuchern am Ende des Hofs schweifen, deren Duft von den schweren lilafarbenen Blüten man noch unten auf der Straße riechen konnte, trank im Gehen den letzten Schluck aus der Flasche, sah die geröteten Gesichter zweier Frauen, die mit geschlossenen Knien und Zigaretten zwischen den Fingerkuppen auf der Treppe saßen, erkannte sie wieder von dem Tisch im Garten und lächelte ihnen im Vorbeigehen andeutungsweise zu, trat durch die Tür und ging zunächst ins Wohnzimmer und anschließend in die Küche, die mittlerweile verwaist war, nahm mir eine neue Flasche und stieg die Treppe hinauf in mein Zimmer, wo ich mich auf den Stuhl unter dem Fenster setzte, den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss.
    Die Boxen im Wohnzimmer standen direkt unter mir, und das Haus war so hellhörig, dass ich jeden Ton klar und deutlich mitbekam.
    Was hatten sie aufgelegt?
    Agnetha Fältskog. Ihren Hit aus dem letzten Sommer. Wie hieß er noch?
    Die Kleider, in denen Vater an diesem Abend herumlief, waren seiner irgendwie nicht würdig. Diese weiße Jacke oder Bluse oder was zum Teufel das war. Er hatte sich immer, solange ich denken konnte, schlicht, korrekt, ein wenig konservativ gekleidet. Seine Garderobe hatte aus Hemden, Anzügen, Jacketts, viele von ihnen aus Tweed, Hosen aus Polyester, Cordsamt, Baumwolle und Pullovern aus Lamm- oder Schafswolle bestanden. Eher ein Dozent vom alten Schlag als ein hemdsärmeliger Studienrat der neuen Garde, aber nicht altmodisch, denn dort verlief die Trennlinie nicht. Sie verlief zwischen dem Weichen und dem Harten, zwischen dem, was Distanz verringern, und dem, was sie aufrechtzuerhalten versucht. Es war eine Frage von Werten. Wenn er plötzlich Arbeitshemden mit Stickereien oder Hemden mit Rüschen trug, in denen ich ihn im Laufe dieses Sommers auch schon gesehen hatte, oder in unförmigen Lederschuhen, die aussahen wie etwas, worin sich ein Same wohlfühlen könnte, entstand ein gewaltiger Gegensatz zwischen dem, was er war, und dem Menschen, als der er sich präsentierte. Ich selbst war auf der Seite des Weichen, ich war gegen Krieg und Autoritäten, Hierarchien und alle Formen von Härte, ich wollte nicht für die Schule pauken, sondern dachte, dass sich mein Intellekt organischer entwickeln sollte; politisch stand ich weit links, die ungleiche Verteilung der Reichtümer unserer Erde erzürnte mich, ich wollte, dass jeder ein Stück vom Kuchen abbekam, und so gesehen waren der Kapitalismus und die Herrschaft des Geldes der Feind. Ich fand, dass alle Menschen den gleichen Wert hatten und die inneren Qualitäten eines Menschen immer wichtiger waren als seine äußeren. Ich war mit anderen Worten für Tiefe und gegen Oberfläche, für das Gute und gegen das Böse, für das Weiche und gegen das Harte. Aber hätte ich mich da nicht freuen sollen, dass mein Vater zu den Reihen des Weichen übergelaufen war? Nein, denn die Ausdrucksformen des Weichen, also die runde Brille, die Samthosen, die Gesundheitsschuhe, die Strickpullover, verachtete ich, weil ich zusammen mit den politischen auch andere, an Musik geknüpfte Ideale hatte, bei denen es in ganz anderem Maße darum ging, gut und cool auszusehen, was wiederum eng mit der Zeit verbunden war, in der wir lebten, denn sie sollte zum Ausdruck kommen, aber nicht der mit den Charts verbundene Teil, nicht der Ausdruck des Pastellfarbenen und Haargels, denn der war untrennbar mit Kommerz, Oberfläche und Unterhaltung verbunden, nein, ausgedrückt werden sollte vielmehr das Innovative, aber trotzdem Traditionsbewusste, das tief Empfundene, aber Smarte, das Intelligente, aber Schlichte, die intensiv suchende, aber echte

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